Weihnachten bei Bodo(1): Die Tanne

Nicht jedes Jahr gab es eine schöne Tanne. Manchmal war der Vater zu spät losgegangen und es gab nur noch leicht verkrüppelt aussehende Resttannen, die deswegen aber keinesfalls billiger waren, oder er hatte einfach nicht genau hingesehen und sich eine zweitklassige Pflanze in die Hand drücken lassen. Weihnachtsbäume, egal wie sie jedes Mal aussahen, waren immer verbunden mit Geschenken, mit Keksen, mit schönen Bescherungen, mit dem Warten auf das Christkind, mit den wunderbaren Weinnachtskugeln, die Bodo später hässlich finden wird, mit dem Aufstellen und Schmücken des Baumes, das sein Vater übernehmen musste als Mann im Haus, der eine Axt benutzen konnte. Damit musste er das dicke Ende so anspitzen, dass der Baum in den Ständer mit den drei Flügelschrauben passte, wenn diese weit herausgedreht waren. Mit Bratäpfeln und echten Kerzen, nicht diesen strombetriebenen unechten, in deren Verkabelung sich jeder im neuen Jahr beim Abschmücken verirren musste, und mit 13 Strophen Vom Himmel hoch, die Bodo in den Wochen vorher mit seiner Mutter am Stubentisch gesungen hatte.

Wenn der Stamm des Baumes zurechtgeschlagen war, bohrten sich die Flügelschrauben des gusseisernen Ständers tief in das Holz der Tanne, um dem Baum den nötigen Halt zu geben. Der Vater musst so lange korrigieren, bis alle zufrieden waren. Entweder stand der Baum nicht gerade oder die schönst Seite zeigte nicht nach vorn, sondern abgewandt in die Zimmerecke oder an den dunkelbraunen Wohnzimmerschrank, in dem die Sammeltassen standen. Manchmal wurde er ungehalten, wenn er keine Lust mehr hatte, Bierdeckel unter den Tisch zu schieben oder den Baum nach Wünschen der Betrachter zu drehen.
Das Aufstellen des Baumes zeigte auch etwas Nachteiliges über Tannen: Sie stachen. Jeder, der länger mit ihnen hantiert hatte, klagte leise über rote Flecken oder Pickel an Händen und Armen, die Ungeschickten hatten die auch im Gesicht. Tannen stachen. Sie waren nicht nur die netten Grundgerüste für lamettatragende Festtagsbäume, sondern hatten ihre Schattenseiten.
Irgendwann war die gläserne Spitze, eines der Schmuckstücke in der Weihnachtsschmucktüte, die eine große Einkaufstüte der Gebrüder Leffers, Herren- und Damenoberbekleidung gewesen war, zerbrochen. Einfach so in den Händen des Vaters war sie zerknickt. Sie war nicht einmal zersplittert, sie war einfach zernickt, als hätte sie schon lange keine Kraft mehr gehabt, ganz oben auf dem Baum zu stecken und das Weihnachtsfest zu krönen.
Manchmal war der Baum sehr hässlich, dann legte sich Unmut über das Weihnachtsfest. Wenn dann Heiligabend die Schnitzel zu lange in der Pfanne gewesen waren, weil der Gottesdienst zu lange gedauert hatte, war die Gefahr groß, dass noch Weiteres verdorben würde, etwa die gute Laune, die aus der Vorfreude beim Kauf der Geschenke entstanden war.
Die Champignons kamen aus dem Glas und wurden in einer zweiten Pfanne angebraten, dann über die Schnitzel gestreut und mit Kartoffeln serviert. Bei Gottesdiensten mit Überlänge wurde alles in die Bratröhre zum Warmhalten geschoben. Jede Minuten dort entzog dem Essen Flüssigkeit, es schrumpfte und wurde unansehnlich und zäh. Für das Essen war am Heiligabend der Vater zuständig, denn der wollte nicht in die Kirche. Je kleiner das Essen geworden war, desto größer wurde die Ablehnung von Kirche, Gottesdiensten, Pastoren und Gott allgemein. Da wusste ja auch keiner genau, ob es den wirklich gab.