Die Gastgeschichte: Nadja

Mein Nachbar hat Geburtstag und ich gehe hin. Es ist November, kalt und nass, aber der Weg ist kurz. Mein Nachbar hat einen großen Ofen, in dem ein Feuer brennt, und viele Gäste, die auch für Wärme sorgen. Nadja ist die Schwiegermutter meines Nachbarn und kommt aus Sibirien. Sie erzählt mir beim Essen vom Leben vor der Perestroika, von verbotenen Gottesdiensten für Kinder und erlaubten für die Erwachsenen. In ihrem Haus treffen sich die Kinder zur Sonntagsschule und ihr Mann, der nicht glaubt, duldet alles und verteilt das Essen. Alle Kinder von Nadja, die Schwiegersöhne und Schwiegertöchter, die Enkel, sitzen auch am Tisch, alle bis auf Viktor, den Ältesten, der noch in Sibirien mit seiner kranken Frau und den Kindern lebt, und das bedeutet, die Familie ist zerrissen, zerteilt, ebenso Nadjas Herz, das auch an diesem Abend halb in Deutschland und halb in Sibirien ist.
Ich trinke Wodka mit Nadja, weil ich glaube, dass ich zu ihren Worten nur Wodka trinken kann, außerdem bin ich zu Fuß, mein Sohn ist auch hier, er wird meinen Mantel und die Schlüssel finden.
Das Essen wird warm gehalten, es riecht nach Spiritus, ich bemerke, dass ich den Geruch mag. Nadjas Sohn sieht mich fragend an, man könne daraus schließen, dass ich auch den Geschmack mag! Ich wusste nicht, dass Menschen auch Spiritus trinken, ich bleibe beim Wodka, weil er so gut zu diesen das-Leben-ist traurig-und-schön-Gesichtern passt. Mein Sohn hängt mir den Mantel um die Schultern, er hält auch schon den Schlüssel in der Hand. Er zieht sich und seiner kleinen Schwester die Winterjacken an und sie stellen sich wartend an die Haustür. Ich will zu ihnen, aber es sind Gäste da, die ich nicht kenne, und ich finde, als Nachbarin muss ich doch wissen, wer diese Menschen sind, mich interessiert vor allem, wie mein Nachbar sie kennen gelernt hat. Er erzählt mir zu einem Gast drei unterschiedliche Geschichten, die ich nicht glauben will, aber eines stimmt: Das Elternhaus dieses Mannes war ein altes Fachwerkhaus neben einem Imbiss, den alle kennen, und dieses Haus ist abgerissen worden, und mein Nachbar heizt mit den zersägten Eichenbalken seinen Ofen und sein Gast freut sich über die Wärme, die sein Elternhaus an diesem Abend verbreitet, ich stehe nur da und will nachdenken, aber mein Sohn kommt und zieht mich in die Kälte hinaus, aber der Weg ist ja kurz.
Marion Wittemeier