Vom Lande: Dorfkapellen zu Kaffee und Kuchen

Mit dem Rad unterwegs zu sein ist beschaulich. Die volle Pracht des dörflichen Lebens lässt sich ohne Hektik genießen. Manchmal zwingt ein Gewitter, sich an Orten unterzustellen, die normalerweise zu meiden sind; dem Liebhaber dörflicher Musik sind sie heilige Plätze. Dorfmusik wird gern an Mühlen gemacht, in oder vor den dazugehörigen Müllerhäusern oder in einem extra aufgebauten Kuchenzelt, in dem neben selbstgebackenem Kuchen auch Kaffee und Alkohol gereicht werden. Einem Faradayschen Käfig gleich schützt das Gestänge des Zeltes vor herabzuckenden Blitzen; gleichzeitig zwingt das Unwetter, die Ohren ungeschützt lautstarker Zeltmusik auszusetzen.
Mutige alte Männer haben ihre Instrumente ausgepackt und spielen gut hörbar ihr Repertoire herunter. Dieses ist begrenzt; aber da Wiederholungen wegen der eigenwilligen Interpretationen kaum zu erkennen sind, besteht keine Gefahr, dass sich das Publikum langweilt. Neben einem Akkordeon ist das zweite allgemein bekannte Instrument eine Trompete. Jedes für sich genommen kann sowohl fürchterliche als auch schöne Musik machen, je nachdem, in welche Hände es geraten ist; in der Kombination der beiden ist das Schöne wenig zu steigern, wohl aber das Fürchterliche, das sich förmlich potenziert, besonders wenn es durch eine Art Schellenstock ergänzt wird, der aus einem glockenbehängten, quergelatteten Besenstiel besteht, an dem auch eine Fahrradklingel befestigt ist. Solche „Vorsicht!“ signalisierenden Geräuschemacher findet man häufig an den Ausflugsstöcken trunkener Vatertagswanderer. Eine Art Rührtrommel komplettiert, sowie ein einsaitiger Bass, der aus einem Blecheimer als Resonanzkörper und einem anderen mit einer gummiartigen Saite bespannten Besenstiel besteht. Wenn im Mittelalter von Teufelsmusik die Rede war, dann trifft das in diesem Fall ganz genau auf eine solche mit Kaffee, Kuchen und Verdauungsschnäpschen präsentierte Musik zu. Ob sie den Teufel anlockt oder austreibt, oder ob die Musikanten vom Teufel geritten werden, bleibt offen. Kann auch sein, dass sich der in ländlicher Vortragskunst ungeübte Hörer zum Teufel scheren möchte, um nicht länger in diesem Klanggebilde aus Schnarren, Tröten, Schmettern, Scheppern, Rattern und Donnern zu verharren. Das Akkordeon klingt beim Luftholen asthmatisch. Der Sonntagsausflügler, der diesen Ort gezielt gewählt hat, bleibt von solchen Klängen unbeeindruckt. Er isst Kuchen, trinkt Kaffee und freut sich, dass er fürs Geld noch eine Kapelle bekommt, die zwar nicht gut aber laut klingt, und dadurch die mit einem Gewitter heranziehenden bösen Geister vertreibt. Die Musikanten haben ihren Spaß, denn eigentlich machen sie Musik, um einmal die Woche aus dem Hause zu kommen und damit einen guten Grund haben, einen zu trinken. Wobei unter „einen trinken“ der Gesamtvorgang der Alkoholaufnahme vom ersten bis etwa zehnten Bierchen gemeint ist. Das klänge der Frau, den Kindern, den Enkeln gegenüber blöd: Ich gehe mal einen trinken. Wir haben heute Abend Probe! Das ist ein Grund, aus dem Haus zu gehen! Gleichzeitig sind die Sonntagnachmittage mit Sinn gefüllt: Hilde geht vielleicht mit, oder fährt sogar den Opel Vectra zurück, setzt sich im Zelt zum Kuchen nieder, und freut sich, dass Heinz seinen Spaß hat, weil der erste Wacholder serviert wird. In Erwartung eines schönen Nachmittags, im Verlaufe dessen sich jeder in eine beschwingte Scheinseligkeit trinken kann, wird dynamisch noch ein bisschen zugelegt.
Da ist es auch nicht schlimm, wenn die Kapelle schlicht HeiWiWiGüFRi heißt, weil eben Heinz, Willi und noch ein Willi, Günter und Fritz zusammen spielen. Der Kulturbanause nutzt eine kleine Regen- und Blitzpause, um sich mit seinem Fahrrad von dannen zu schaffen, um lieber Naturklängen zu lauschen, wie etwa einem abziehenden Gewitter.