Der Gastbeitrag: Manni hasst Weihnachten

Warum Manni Weihnachten hasste, erzählte er uns gleich bei der ersten Begegnung. Die fand am Morgen des 24. Dezember statt, als wir gerade den Baum aufstellten. Als es klingelte und mein Mann die Tür öffnete, sahen wir Manni das erste Mal und in den folgenden Jahren sah er immer genauso aus wie an diesem Tag. Dass er obdachlos war, war nicht auf den ersten Blick an seiner Kleidung zu erkennen. Es war das fehlende Gebiss, das ihn brandmarkte, und dazu eine altmodische, verschmierte Brille mit unendlich dicken Gläsern. Dass er Manni hieß, erzählte er wenige Minuten später, nachdem mein Mann ihn hereingebeten, ihm zwei Wurstbrote geschmiert und einen Kaffee gekocht hatte. Ich blieb etwas auf Abstand, denn ich hatte noch sehr viel zu tun und war noch nicht wirklich bereit, mein Mitgefühl über meine persönliche Tagesplanung siegen zu lassen. Außerdem stank Manni fürchterlich nach Urin, was leichte Übelkeit bei mir auslöste.
Als Dankeschön schenkte Manni uns Kugelschreiber und seine Erklärung, weshalb er Weihnachten hasste. Er hatte als Kind nie ein schönes Weihnachtsfest erlebt, der Vater schlug die Mutter, immer wieder, und wenn er nicht sie verprügelte, dann ihn und die neun Geschwister. Weihnachten ging die Oma zum Vater und fragte ihn, ob er keine Geschenke für seine Kinder habe, nur Schläge, aber der Vater schrie die Oma nur an und jagte sie aus dem Haus, wenigstens schlug er nicht auch noch sie.
Manni erzählte zwar, warum er Weihnachten so sehr hasste, aber er tat das ruhig, fast freundlich, als ob er schon so oft darüber geredet hatte, dass er keinen wirklichen Hass mehr dabei empfinden konnte. Als er „Scheiß Weihnachten“ sagte, bat ich ihn, auf die Kinder Rücksicht zu nehmen, die ab und zu in die Küche kamen und den seltsamen Gast beobachteten. Sie waren schon etwas ungeduldig, weil sich wegen Manni das Schmücken des Baumes verzögerte, und gleichzeitig neugierig auf dieses Wesen aus einer ihnen bisher unbekannten Welt, einer schlecht riechenden Welt. Manni entschuldigte sich, aber danach unterbrach ich ihn nicht mehr, denn ich dachte, dass die Kinder es wohl verkraften werden, dass es Menschen gibt, die Weihnachten hassen, und falls sie auch mal Weihnachten hassen werden, dann bitte nicht wegen einer Mutter, die zu Weihnachten Fröhlichkeit und Freude verordnet hat und Männern den Mund verbietet, die nachts auf Friedhöfen schlafen, weil sie sonst kein Bett haben und es dort recht sicher ist.
Mein Mann wollte Manni überreden, Heiligabend bei uns zu verbringen, wenigstens am Abend zum Essen wiederzukommen, aber Manni lehnte dankend ab, er müsse weiter, aber vielleicht könnten wir ihm ja noch etwas Geld für die Weiterreise geben. Ich war erleichtert und schmierte ihm noch zwei weitere Brote für unterwegs, das Geld bekam er natürlich auch.
Von diesem Tag an stand Manni jedes Jahr am 24. Dezember vor unserer Tür, aß Brote, trank Kaffee und erzählte von seinem Hass auf Weihnachten. Wir gewöhnten uns an diese Besuche, für die Kinder wurde er im Laufe der Jahre eine Art Weihnachtsmann, der aus einem völlig verdreckten Rucksack Kugelschreiber holte und diese verschenkte. Er kam niemals an einem anderen Tag als am Heiligen Abend. Einmal sah ich ihn im Sommer oder im Frühjahr vom Auto aus zu Fuß die Landstraße entlangwandernd, nur wenige Kilometer von unserem Haus entfernt. Ich stellte mich schon auf Uringeruch und Kaffeekochen ein, doch Manni klingelte nicht, ob er einfach am Haus vorüber gegangen oder einen anderen Weg eingeschlagen hatte, wusste ich nicht. An einem anderen Tag sah ich ihn während einer Autofahrt auf dem Radweg liegen, ich hielt an und lief zu ihm, obwohl mir klar war, dass er nur seinen Rausch ausschlief. Er erkannte mich nicht einmal, sondern hielt mich für die Polizei und schenkte mir einen Kugelschreiber. Es war erst Mittag und der Asphalt reflektierte eine warme Septembersonne, also fuhr ich weiter. Nur einmal verbrachte Manni Heiligabend mit unserer Familie. Und zwar in dem Jahr, in dem seine Mutter gestorben war. Wie er davon erfahren hatte, blieb uns ein Rätsel. Er kam am 24. Dezember, in seinen alten Sachen, mit dem dreckigen Rucksack, aber rasiert und gewaschen, und erzählte von seiner Mutter, die, schon seit Jahren gelähmt, vor wenigen Tagen in einem Pflegeheim gestorben sei. Ich wollte unbedingt wissen, ob sie schon beerdigt worden sei oder noch nicht und ob Manni dabei war oder nicht, aber wir konnten keine vernünftige Antwort aus ihm herausbekommen. Er war sehr traurig, einige Tränen liefen über sein zahnloses, eingefallenes Gesicht und er sprach kein einziges Mal davon, wie sehr er Weihnachten hasste. Durch nichts hätte er seine Verzweiflung stärker zum Ausdruck bringen können. In diesem Jahr lud mein Mann ihm zum ersten Mal wieder ein, Heiligabend bei uns zu verbringen, Manni nickte nur, und dieses Mal erleichterte mich sein Nicken. Er blieb einfach sitzen, erst auf dem Küchenstuhl und am Abend auf dem Sofa, er aß nicht und trank nicht, sondern saß nur still da und sprach von seiner Mutter und deren freudlosen Leben. Plötzlich stand er auf, obwohl es schon spät war, wollte er unbedingt weiter, auf keinen Fall wollte er auf dem Sofa schlafen, was mich etwas erleichterte, denn ich konnte mich noch gut an den Uringeruch der letzten Jahre erinnern, wer wusste denn, ob Manni am nächsten Morgen auch noch so gut riechen würde wie jetzt. An der Tür waren wir etwas hilflos und wussten nicht, wie wir ihn verabschieden sollten, alles war anders, Manni wollte kein Geld und schenkte uns keine Kugelschreiber. Aber noch mehr als wir schienen die Kinder unter dem Fehlen dieser alljährlichen Rituale zu leiden, denn als ob sie ihn wieder zurückholen wollte aus seiner Trauer und seinen alten Geschichten und ihn einschwören wollte auf Altbewährtes, auf gute Traditionen, die uns ans Leben binden, sagte meine Tochter, während sie Manni kräftig die Hand schüttelte: „Scheiß Weihnachten!“ Marion W