Warum Geburtstag feiern?

Im Mittelalter wurde robust gefeiert
Warum feiert man Geburtstag?
Das Leben bekommt Struktur, ist die oft lapidare Antwort.
Dabei ist noch nicht einmal klar, welche Struktur, denn je nach erreichtem Alter kann man die verstrichene Lebenszeit in Dreißigstel, Zweiundvierzigstel oder Einundachtzigstel teilen. Das bringt aber erst mal gar nichts, wenn man nicht weiß, dass es vielleicht insgesamt Hundertstel werden, oder nur Zweiungdreißigstel.
Es geht nicht immer nach der Reihenfolge, sagte meine Oma schon, und meinte, dass sie zwar dran wäre, altersmäßig, aber noch lange nicht dran sein müsse. Der liebe Gott holt sich gelegentlich auch Jüngere in den Himmel, vielleicht um das Durchschnittsalter zu senken, oder einfach, weil es schöner anzusehen ist.
Wer neunundvierzig wird, feiert seinen fünfzigsten Geburtstag. Hach, werden einige sagen, dann habe ich meinen runden Geburtstag ja ganz falsch gefeiert!
Es ist wie damals in Mathe, fünfte oder sechste Klasse, wir Schüler sollten Zäune berechnen. Wenn man eine Strecke von hundert Metern mit einem Zaun versehen will und nach jedem Meter einen Pfahl setzt, wie  viele Pfähle braucht man dann? Die Lösung wollte mir nur schwer einleuchten: 101. Bei Null geht es nämlich schon los. Wenn man, was natürlich unrealistisch ist, einen Meter einzäunen will, braucht man zwei Pfähle.
Ich fragte mich damals, wer auf die Idee gekommen sein musste, eine Strecke einzuzäunen? Da konnte man doch immer neben Anfangs- und Endpfahl vorbeirennen. Denn Zäune sollte Menschen oder Tiere vom Wegrennen abhalten, bzw. verhindern, dass sie reinrannten. Aber wo hinein?
Ich beschloss damals, es mit den Indianern zu halten, die das kleinkarierter Verhalten weißer Viehzüchter nicht nachvollziehen konnten und gegen jegliche Zäune waren. Sie brauchten die Freiheit der Prärie, und ich brauchte sie auch: Die Freiheit von Mathematik, die sich philosophischer Fragestellungen immer entziehen wollte.
Wer seinen achtundfünfzigsten Geburtstag feiert, ist erst siebenundfünfzig Jahre alt. Denn wie bei den Zaunpfählen zählt der Tag der Geburt natürlich mit. Geburtstag nämlich.
Gefeiert habe ich den garantiert damals nicht, ich war ziemlich kaputt von der Geburt, und erinnern kann ich mich auch nicht mehr.
Auch von den ersten Feiern ist nichts hängen geblieben, wahrscheinlich haben die Verwandten gefeiert, Torte gegessen und Bowle geschlürft, und ich habe in der Zeit geschlafen.
Also lässt sich die Frage, den wievielten Geburtstag man feiert, gar nicht beantworten.
Es geht wohl mehr ums Älterwerden. Ein Vorgang, der jeden Tag passiert, und dessen fortgeschrittenes Stadium man an der steigenden Unlust erkennt, Geburtstage zu feiern.

Geburtstage sind Gedenktage. Bedenke, dass du geboren wurdest. Was hast du aus deinem Leben gemacht? Warum denkst du jetzt über diese Frage nach? Und dann die Erkenntnis: Ich bin ja gar nicht mehr jung.
Nicht mehr jung! Ein Euphemismus  für alt. Man ist so alt, wie man sich fühlt, sagte meine Oma. Aber alt eben. Sie hätte doch sagen können: Man ist so jung, wie man sich fühlt. Hat sie aber nicht. Meine Oma war sowieso immer schon alt.

Gegen die philosophische Depression, die der permanent sich steigernden Sinnkrise entspringt, hilft letztendlich eine Feier: Wegfeiern. Einfach wegfeiern. Nette Menschen um sich sammeln, die das Geburtstagskind daran erinnern, dass sie auch älter werden. Gemeinschaft empfinden. Nicht allein den nächsten, kleineren Nenner, "erleben", und froh sein, nicht mehr überflüssige Fragen nach der Anzahl der Zaunpfähle auf einer Hundertmeterstrecke beantworten müssen.