Unverstellte Kinder sehen mehr

Menschen wollen das Besondere, das sie abhebt von den anderen, von den Blassen, den Langweiligen, den Hässlichen.
Je mehr sie selber diesen gleichen, desto fester glauben sie daran, dass etwas Besonderes an ihrem Körper sie dieser Gruppe entreißt und sie als Stern an den Himmel schießt, den alle mit lautem Aaaah! Aufmerksamkeit spenden und das neue Licht im Dunklen bewundern.
Kinder sehen mehr als Erwachsene, weil ihre Augen noch offen sind, ihr Verstand noch wach ist, nicht vergiftet vom alltäglichen Mühen, besser, schöner und tüchtiger, vor allem begehrenswerter zu sein, die einfach schauen und assoziieren, die ihren Gedanken freien Lauf lassen und die Dinge dadurch zurechtrücken.
Mutti, guck mal, die Tante hat Hasenköttel am Hals!, ruft Bubi, als er Desirées neue Halskette aus feinsten schwarzen Perlen, die einen Horrorpreis gekostet hat, entdeckt. Bruno hatte immerhin etwas gutzumachen, da waren schwarze Perlen das Mindeste.
Na, du kleiner Affenarsch, zischt Desirée unhörbar für erwachsene Ohren dem Kind zu und stellt dem Kleinen ein Bein.
Bubi stürzt und heult natürlich Rotz und Wasser, schreit nach seiner Mutti, aber Desirée ist zur Stelle und hilft dem Knirps auf. Dabei kneift sie ihm die Innenseite des Oberarms.
Mund halten, Äffchen, zischt sie noch einmal, von wegen Hasenköttel! Die kannst du gleich frühstücken, und das schmeckt wirklich widerlich. Merk dir das für dein Leben!
Gottseidank ist Mutti dann zur Stelle, bedankt sich artig bei Desirée, dass sie geholfen hat und kümmert sich um ihr unverstelltes, offenes Kind, das wohl so schnell nicht mehr schwarze Perlen und Hasenköttel verwechseln wird. Schade eigentlich.