Die Parabel vom Cent auf dem Boden

Zwei Jahre lang hatte der Cent auf dem Boden gelegen und niemand hatte sich nach ihm gebückt und ihn aufgehoben. Er dachte an die Zeiten, als es noch wertbewahrende Sprüche gab: Wer den Pfennig nicht ehrt, ist den Taler nicht wert. Wer wusste denn noch von Pfennigen und Talern? Heute war alles Rechnen gebunden an Euro und Cent und Aktien und Dividenden. Wer den Cent nicht ehrt, ist den Euro nicht wert! Das klang nicht gut, das klang zu neuzeitlich, zu modern, so als habe sich das ein Besserwisser ausgedacht, das klang nicht, als sei es altes Wissen, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Eines Tages kam ein junger Mann vorbei in schniekem Anzug und Aktentasche aus Krokodilleder, das eine gut gemachte Imitation war. Er blieb vor dem Cnt stehen und betrachtete ihn: Ein Cent, der schon zwei Jahre auf dem Boden liegt, und niemand hat sich nach ihm gebückt und ihn aufgehoben. Das will ich aber tun, denn, wer den Cent nicht ehrt, ist den Euro nicht wert. Oder heißt es des Euros?, sagte der junge Mann und sprach weiter: Ach, egal, ich hebe ihn auf, und dann kann ich richtig Euros machen!
Unglaublich, dachte der Cent, denn sprechen konnte er nicht, unglaublich, dass mich dieser Opportunist aufheben will, hat nichts anderes im Kopf, als Euros zu machen, der Mittel heiligt die Zwecke, ich werde nur benutzt, um die Geldgier des jungen Mannes zu befriedigen! Das hat nichts mit ehren zu tun. Ach, kann man mich nicht um meiner selbst willen ehren?, klagte der Cent.
Der junge Mann hob den Cent auf und lächelte: OK, das hat nichts mit ehren zu tun, wenn ich dieses relativ wertlose Geldstück aufhebe. Einmal Bücken, das kostet schon etwas mehr, wenn ich mal meine Arbeitszeit bedenke, die ich hier investiere. Materialwert? Ist doch gleich null. Auch wenn die Kupferpreise gestiegen sind. Wer den Cent nicht ehrt, ist den Euro nicht wert.Oder heißt es des Euros? Sicher ist sicher, ich will das Schicksal nicht herausfordern und hinterher sagen, hätte ich mann den Cent aufgehoben.
Er steckte die Münze in die Hosentasche.
Der Cent seufzte: In der Hosentasche eines Opportunisten zu stecken ist immer noch besser, als bei jedem Wetter auf der Straße zu liegen.
Der junge Mann ging mit dem Cent in der Hosentasche und einem guten Gefühl in die nächste Sparkasse. Jetzt würde er die große Finanzwelt erobern. Ein Opportunist ist ein Mensch, der seine Chancen nutzt, seien sie auch noch so gering, was daran kann falsch oder schlecht sein?, murmelte der junge Mann.
Der Cent aber war in der warmen Hosentasche unter einem kaum benutzten Papiertaschentuch eingeschlafen und träumte von großen Ehrungen, die ihn die Menschen zuteil werden ließen.