Die Parabel vom Brückengeländer

Eines Tages sagte das Brückengeländer zur Brücke: "So viele Jahre nun bin ich schon Brückengeländer, so viele Jahre habe ich Menschen Halt gegeben, die diesen Fluss überqueren wollten, so viele Jahre musste ich mir selbst immer Halt sein, wenn es mir einmal schlecht ging. Ich will nun losgehen und etwas anderes tun. Ich will ein anderes, ein neues Leben."
Die Brücke war darüber traurig und auch gekränkt; sie fragte: "Habe ich dir nicht auch immer Halt gegeben? Ohne mich lägst du im Fluss, müsstest vielleicht um dein Leben kämpfen oder wärst längst ertrunken und würdest im Schlamm des Flussbettes verrosten?"
Das Brückengeländer sprach: "Brücke, das habe ich nicht bedacht, aber ich will es auch nicht mehr bedenken, ich will schon heute losgehen, denn jede Minute des Wartens ohne Handeln ist eine verlorene Minute."
Die Brücke versuchte das Geländer umzustimmen, denn sie hatte Angst, allein zu sein, Angst, dass die Menschen sie nicht mehr überqueren würden, wenn sie ganz ohne Geländer dastünde: "Bedenke, wie viele Jahre wir gemeinsam Verbracht haben, wie gut es uns immer gegangen ist und wie viele Jahre wir noch gemeinsam in Harmonie, ja in Symbiose, verbringen könnten! Bleib und sei mit deinem Leben zufrieden!"
Das Geländer aber ließ sich nicht umstimmen: "Ich weiß nicht was Harmonie und Symbiose sind, das hat mir niemand gesagt, weil ich immer nur hier an diesem Ort, auf dieser Brücke gewesen bin. Ich will aber losgehen und es lernen, so, wie ich auch andere Dinge erfahren und lernen möchte. Mein Entschluss ist gefasst!"
Die Brücke schwieg und Tränen standen ihr in Ritzen,Fugen und an den Nieten.
"Ich habe beschlossen, mir einen schönen Wagen zu suchen, mich mit diesem zusammen zu tun und ein Geländerwagen zu werden. Da werde ich endlich einmal am Anfang eines zusammengesetzten Substantivs stehen!"
Die Brücke wusste nicht genau, was zusammengesetzte Substantive sind, aber sie wollte sich nicht die Blöße geben, danach zu fragen. Eines aber wusste sie: Es gab keine Geländerwagen. Vielleicht meinte das Geländer, das nun seine Sachen packte, einen Geländewagen. Die Brücke schwieg aber weiter, denn sie war gekränkt und sie wusste, dass es keinen Zweck haben würde, diesen Irrtum aufzuklären, zu entschlossen war das Geländer, diesen Ort zu verlassen. Eines Tages würde es aber den fatalen Irrtum erkennen und vielleicht zurückkehren. "Die bitterste Form des Lernens", murmelte die Brücke, "ist die durch Erfahrung." Das Geländer sagte: "Tschüss, Brücke, mach's gut, alte Stahlbetonplatte!""Bis denn", sagte die Brücke, sah dem Geländer nach, bis es hinter den Bäumen verschwand und dachte: "Warum hat es mich 'alte Stahlbetonplatte' genannt?"