Lyrikkritik: Doris Dörr - Der Kick

Der Kick

Der Kick ist der freie Fall.
Der Kick ist der Flug im All.
Der Kick ist der Tag danach.
Der Kick kommt im Schlafgemach.
Der Kick kommt beim Höhlentauchen
Atemnot kommt vom Rauchen.
Der Kick ist der Sprung aufs Trampolin.
Der Kick ist pures Adrenalin.
Der Kick macht frei und high.
Der Kick ist immer schneller vorbei.




Der Titel verspricht dem Fußballbeflissenen einen netten Text über seine Lieblingssportart; weit gefehlt, selbst der Reimefreund kommt nocht auf seine Kosten, wenn er auf schlüpfrige Reime über das Titelwort hofft.
 Der Tradition verbunden dichtet Dörr im klassischen Endreim, ungewöhnlich das Wort high, das sich auf vorbei reimen soll und dem englischsprachigen Raum entlehnt ist. Das Gedicht umfasst zehn Zeilen, von den neun mit "Der Kick..." beginnen, eine Zeile, die sechste, stellt ohne Artikel das Wort Atemnot an den Anfang und zerschlägt damit die wohltuende Monotonie eines Lebens, das nach immer neuen Höhenpunkt sucht, vielleicht sogar süchtig ist.
Geht man die Liste der Vorgänge durch, die einen Kick verschaffen, kann man die Bedeutung dieses Wortes näher beschreiben: Freier Fall, das All, das Schlafgemach, Höhlentauchen und ein Trampolin können schaffen, was in Zeile sieben als pures Adrenalin bescheinigt wird, den Kick nämlich, die Erregung, das Aufwallen mit der anschließenden wohltuenden Entspannung, wenn Angst und Ekstase nachlassen und ein Prickeln von tausend Nadeln über die Haut wandert.
Ein Kick, nein, der Kick macht frei. Der freie Fall aus großer Höhe befreit vom anstrengenden Leben, der Flug ins All macht zeitlos, mit Lichtgeschwindigkeit bewegen wir uns, und unsere Freunde sind verschwunden, wenn wir zurückkehren, weil sie längst gealtert und gestorben sind. Der Tag danach, egal wonach, nach dem ersten Mal, nach dem letzten Mal, nach dem vierundsechzigsten Mal, egal, der macht frei. Höhlentauchen, wenn der Tiefenkoller kommt und Trampolinspringen, wenn die Lunge unter die Zungenwurzel drückt, das sind Empfindungen die ins Existenzielle reichen. Schließlich überrascht uns das Profane: Der Kick geht vorbei, immer schneller, wir brauchen immer mehr, und wir brauchen ihn immer öfter, wir sind süchtig.
Mittendrin: Atemnot wegen Rauches. Das schmerzt. Das ist übel, das macht übel. Die Regierung erhöht die Tabaksteuer und das ist gut, denn den wirklichen Kick bekommt man erst am Tag danach.
Ein großer Wurf von Doris Dörr. Schlicht auf den ersten Blick, aber voller Tiefgang. Und nicht allein wegen des Höhlentauchens.