Günter Krass: Erinnerungen - Rohrstock -

Der Rohrstock ruhte in der Ablage für die Kreide unter dem Tafelblatt. Er war gedacht für Missetäter, die den Schulfrieden gestört hatten, ihre Hausaufgaben mehrfach nicht angefertigt hatten oder nicht in das Erziehungskonzept passten. Der Rohrstock hatte immer einen Namen; er wurde nach dem ersten Schüler benannt, der ihn auf seinem Hosenboden empfangen hatte. In erster Linie wurden Jungen geschlagen. Mädchen hatten immer ihre Hausaufgaben und schrieben sauberer. Sie malten schönere Bilder und konnten wie Mädchen gucken, was das Mitleid des strafenden Lehrers erweckte. Dass die Mädchen viele Jahre später beanspruchten, wie Männer behandelt zu werden, vor allem, wenn es um Rechte ging, verärgerte die damals Geschlagenen. Diese lehnten es dann ab, Frauen die Rechnung zu bezahlen, in den Mantel zu helfen und die Tür zu öffnen.
Der Rohrstock war als gerechtes Strafinstrument anerkannt; der aus Peddigrohr war besonders gefürchtet. Er pfiff durch die Luft, um anschließend und blitzartig einen beißenden Schmerz am Gesäß zu verursachen. Es war verpönt, zu weinen. Das war mädchenhaft, da war man schnell eine Heulsuse.
Das Peddigrohr stammten von der benachbarten Korbflechterei, die das Gerät in unterschiedlichen Stärken anbot. Besonders eifrige Schüler brachten auch Stöcke aus Weidenrohr mit, die aber den hohen Anforderungen nicht lange genügten. Wenn sie ausgetrocknet waren, wurden sie brüchig. Wenn sie bei der Strafausteilung abbrachen, konnte der Lehrer nicht beurteilen, ob die Strafe scharf genug ausgefallen war und musste eventuell nacharbeiten.
Die Geschlagenen waren für uns Märtyrer und wir bewunderten sie, wenn sie ein verkrampftes Lächeln präsentierten, um zu zeigen: Tat gar nicht weh. Doch wir wussten, dass der größte Schmerz die Demütigung war.
Wahrscheinlich tat es den Lehrern in der Seele weh, einem ihnen unterlegenen Menschen Schmerzen zuzufügen, aber sie musste ja ihren Erziehungsauftrag erledigen.