Günter Krass - Erinnerungen: Autorebellion

Wir haben uns die Haare wachsen lassen, weil wir aufbegehrten, weil wir anders sein wollten als die Elterngeneration mit ihrem Besserwissertum, diese Generation der Richtigtuer, die in ihren Gärten wurschtelte, wenn es am Haus nichts mehr umzubauen gab, die sich nachkriegsgetrieben Schmerbäuche anfutterte und Zigarettenrauchen für normal hielt, die Bier mit einem Korn dazu trank und am Silvesterabend Bowle schlürfte und dazu Salzstangen knapperte, bevor der Kartoffelsalat mit den obligartorischen Würstchen im zarten Saitling, später in zarter Eigenhaut serviert wurde. Unsere Haare reichten bis zur Schulter und darüber hinaus und man verspottete uns als Mädchen, weil uns sonst nicht beizukommen war. Schließlich begriffen wir, dass lange Haare allein die Gesellschaft nicht veränderten. Die ersten Abtrünnigen, vielleicht Enttäuschten, begannen, zum Frisör zu gehen und sich pflegeleichte Kurzhaarfrisuren verpassen zu lassen.
Einige wenige blieben bei den langen Haaren und protestierten unermüdlich weiter, sie ließen nicht los von den alten Zielen und glaubten, dass irgendwann ein sozial verträglicher Kommunismus die Welt steuern würde oder ein "Make love not war" das Bewusstsein verändert hätte. Ihnen war entgangen, dass sie selbst die Generation waren, die sie immer noch provozieren wollten.Ein fatales Versäumnis, denn mittlerweile waren die Kinder fast schlimmer als die Erwachsenen damals: Sie nahmen die Langhaarprotestler überhaupt nicht zur Kenntnis,sie hatten nicht mal Spott für sie übrig, denn selbst das Fernsehen zeigte sie nur, wenn uralte Hits von Greisen gespielt werden mussten. Und dafür hatte doch jeder Verständnis, dass man auch im Alter etwas Sinnvolles tun musste, wenn nicht Makramee, dann Hardrock.