Möhrenessen als Vertrauensbeweis


Kann ich mir mal eine Möhre nehmen?, heißt es oft im Frühstücksraum, denn die liegen da frisch und mundgerecht vorbereitet im Frühstücksbeutel und verlocken besonders Menschen, die morgens keine Lust haben, sich selbst ein paar der farbenfrohen Stangen zu schrappen, wie man landläufig sagt, die aber Wert auf gesunde Ernährung legen.
Der Gefragte sagt freundlich sein "Greifzu" und spannt die Kiefermuskeln an, denn seine genau abgezählte, besser abgeschälte, Möhrenration schwindet dahin, wenn die Hand des Fragers zwei- oder dreimal in die Tüte greift. Bevor Unmut aufkommt, sollte sich der Mundberaubte klar machen, dass hier ein großer Vertrauensbeweis vorliegt. Macht man sich klar, wie Möhren für das Frühstück vorbereitet werden, so wird deutlich, dass hier ein Herd übelster Keime vorliegen kann. Wer weiß denn, wie die Erziehung zum Händereinigen aus den Fünfzigerjahren, als man im Rahmen der Entnazifizierung seine Hände zigmale am Tag in Unschuld wusch oder seine Kinder waschen ließ, heute noch Auswirkungen hat? Was ist vor dem Schälen passiert? Ein Toilettengang, ein morgendliches Popeln oder ein Kratzen in der Gesäßspalte? Mal kurz durch die fettigen Haare gewischt und dann im Ohr gebohrt? Alles Tätigkeiten, die sein müssen, die sich aber keiner vor dem Schälen einer Möhre, die man gleich essen wird, wünscht. Vor allem, wenn es eine fremde Möhre ist.
Also: Wenn dir jemand deine Möhren wegisst, dann erlebst du, wie viel Vertrauen deine Mitmenschen in dich setzen, wie wenig Dreck und Schmutz sie an dir vermuten, und das kann dich richtig froh stimmen. Da isst jeder auch mal eine Möhre weniger.