Günther Krass: Erinnerungen - Trinken im Heimatdorf

Liebes Tagebuch!
Gestern in meinem alten Heimatdorf getrunken. Allerdings mit Menschen, die nördlich der Großen Straße leben, die mir damals als Zentraleingeborenem immer suspekt geblieben waren, sie hatten etwas Zugereistes oder Zugezogenes, so als seien sie nicht von hier gewesen, eine kleine, verschworene Gemeinschaft, die niemanden in ihren "inner circle" ließ. Sie galten als äußerst verwegen und vor allem trinkfest, so dass sich niemand des Zentraldorfes mit ihnen an der Theke messen wollte. Gestern stand ich mitten in diesem Ortsteil und musste trinken, was die Bedienung brachte. Es gab kein Zurück, kein Entkommen. Es wurde dem europäischen Gedanken gehuldigt, denn in jedem Glas Hochprozentigem schwamm ein Stück Fleisch, das von einer mir unbekannten Frucht stammte, in der eine kleine Flagge eines europäischen Staates steckte. In hoher Schlagzahl wurde durch Europa getrunken, sodass es zum traditionellen Hauptstadtraten nicht mehr kommen konnte. Ich konnte eine Reihe an verschiedensten Flaggen sammeln, allerdings habe ich Dänemark doppelt. Die Schweiz wurde als Finanz-Schurkenstaat von mir ignoriert, hier siegte auch mal die Moral über die Raffgier. Es wurde diskutiert, dass auf einigen Deutschlandfahnen die Farben falsch sortiert seien und auch senkrecht statt waagerecht verliefen. Ein Kundiger löste die Diskussion auf, indem er kundtat, das sei die Flagge von Belgien. Da keine wirklichen Beweise entgegengehalten werden konnten, akzeptierte die Runde das. Gegen später versuchten einige aus der schwarzrotgoldenen Deutschlandfahne das Gold herauszuschneiden, um sich daraus Goldbarren zu gießen. Leider verbrannten die Fahnenteile beim Erhitzen. Ich hoffe, dass in den nächsten Tagen die Erinnerung an weitere Details an den relativ langen Abend zurückkehren, dann werde ich dir mehr berichten, liebes Tagebuch. Bis dahin bin ich dein Günther mit h.

Ach, da fällt mir doch noch was ein: Die Nachbarn gingen im Abstand von einer Stunde etwa nach Hause, um sich ein Viertelstündchen aufs Ohr zu legen. Frisch und erholt kamen sie dann zurück, um in gewaltigen Schlucken das Versäumte nachzuholen. Da konnten wir Städter, die keine Regenerationssofas mitgebracht hatten, nicht mithalten. Gegen später Taxi bestellt, weil keiner mehr fahren wollte. Ich hatte sowieso kein Auto dabei.