Wenn wir Reptilien begegnen


Immer wieder begegnen wir Menschen, die uns erschreckend an Reptilien erinnern, an diese kalten und geschmeidigen Wesen, die wir als Kinder nur mit Abstand betrachteten oder versuchten auszurotten. Wir schossen mit Metallstangen aus ausgedienten Schirmen, katapultiert von unseren Flitzebögen, die sonst nur Holzpfeile in Weißkohlköpfe trieben. Nachts träumten wir von den kalten Wesen und fürchteten die schnellen Zungen, die womöglich an uns herumtasteten, um die verwundbare Stelle zu finden. Wir entwickelten eine tiefe Abneigung.
Und dann begegnen uns Menschen, die den Reptilien ähneln, manchmal Kleriker, die in düsteren Gewölben ihres Sakralbaus bleich und kühl geworden, manchmal Ottonormalverbraucher, die die Zigaretten und andere Drogen übelriechend und feuchthändrig gemacht haben.
Wir müssen uns zusammenreißen und nicht nach dem Regenschirm schielen, der sechs bis acht prächtige Pfeile ergäbe, zur Not mit der Faust dem Gegner entgegengedrückt in Ermangelung eines Bogens.
Vergeben. Lieben. Tolerieren.
Das hat man uns beigebracht.
Aber geht das angesichts der Abscheulichkeiten, die wir analog dem abgelehnten Wesen zuordnen?
Spinnt sich nicht schon ein Rachefeldzug im Kopf zusammen, wie wir das Übel ahnden und drängt sich uns nicht der Präventivschlag auf, der das Ende zwar vorwegnimmt, die böse Tat, die es zu rächen gilt, aber dadurch verhindert?
Wir sind endlich amerikanisch.
Wir können endlich Gut und Böse unterscheiden und wissen im Tiefsten: Das Böse sieht nicht gut aus. Nicht für uns. Es mag eine eigene Ästhetik entwickelt haben; die ist aber nicht die unsere.
Drum hüte dich, Leser, anders auszusehen als wir.
Du enthüllst damit das Böse, das noch in dir schlummert, aber sich in jedem Moment Bahn brechen kann, um ans Licht zu kommen.
Wir gehen derweil Regenschirme kaufen, denn es regnet ja vielleicht morgen oder übermorgen, und dann ist man froh, trockenen Kopfes den Heimweg antreten zu können und hofft still, nicht einem Reptil in Menschengestalt zu begegnen, das sich bei diesem Wetter zwar wohl fühlt, aber gerade deswegen den Bogen überspannen könnte.
Vergeben. Lieben. Tolerieren.
Aber was vergeben?