Meine Brille ist weg

Meine Brille ist weg. Jeder, der eine Brille braucht oder gebraucht, wie es oft fälschlich heißt, aber vielleicht gebraucht er sie ja auch, kann davon berichten: Ohne Brille sehe ich nicht, wo meine Brille ist.
Das erste Mal wurde mir das klar, als ich noch keine Brille brauchte und in der Sauna war. Mein Kollege oder Kamerad - in Saunen empfiehlt sich, nicht von "Freund" zu sprechen, auch wenn es einer ist - legte seine Brille auf die Brillenablage. Wohin auch sonst?
Wir betraten den Saunaraum und ich erklärte ihm die kleine Welt, die sich uns, bzw. mir, weil er nichts sehen konnte, bot: Ältere Herren, die über das letzte Grillen und den Konsum von Bier berichteten. Es gab nichts zu erzählen. Die Bäuche der alten Männer überdeckten die Gemächte, sodass ich auch hierzu  nichts sagen konnten, was auch vollkommen in Ordnung war, denn was hätte es da Interessantes zu berichten gegeben?
Frauen fehlten in jenem Raum. Vielleicht wären die Gespräche anders ausgefallen, vielleicht wäre das Niveau ein anderes gewesen, vielleicht hätte ich über uninteressante Gemächte dem Begleiter berichten können, weil Frauen ja auch die Körperhaltung  verändern.
Wir verließen den Raum und ich dachte: Was soll ein kurzsichtiger Mensch nun tun? Wie kann er die Brillenablage finden? Er hat in der letzten halben Stunde nichts erlebt, hat sich nur langweilige Berichte anhören müssen, und jetzt tatstet er nach seiner Brille, deren Ablegeort er vergessen hat! Welch Einschränkung des Alltags! Welche Behinderung!
Und  nun stelle ich fest: Meine Brille ist weg! Meine eigene Brille! Wo ist sie hin? Was will mir das Leben sagen?
Sie hatte sich so an meinen Kopf gewöhnt, dass ich sie für einen Bestandteil dessen gehalten habe. Wie soll ich sie finden, wenn ich nicht richtig sehen kann?