Günter Krass: Petra hat keinen Fernseher (2007)


Was für einen Sinn hat, es einen Fernsehabend ohne Fernseher zu verbringen, sich gemütlich in ein Sofa zu kuscheln, die Tüte Chips geöffnet oder Erdnussflipse, die die Hände immer schneller schmierig machen, auf dem Schoß und eine Cola oder etwas anderes Süßes, vielleicht auch ein Bier oder zwei, aber dann keinen Fernseher in der Ecke. Petra starrt gebannt in die Zimmerecke, dahin wo der Fernseher stehen müsste, der aber nicht dort steht. Petra nimmt die Hockstellung ein, drückt sich in die Sitzecke, die Fersen an den Hintern gezogen und denkt: Was mache ich hier? Das ist der Anfang vom Ende. Ein Fernsehabend ohne Fernseher. Nicht einmal Mutter ist da, die mit ihrem Strickzeug ein leises Klappern erzeugen könnte, das Petra ungemein beruhigt. Nichts. Das Nichts hat sich ausgebreitet. Wie kann sich nichts ausbreiten. Nichts ist nichts, denkt Petra, das kann sich ausbreiten wie es will, es ist doch gar nicht da. So fängt es immer an, denkt Petra und greift in die Chipstüte. Die Chips schmecken lasch und alt. Liefe der Fernseher, wäre ihr das gar nicht aufgefallen. Die Heizung knackt und der Wellensittich scharrt im Fressnapf, der kein Futter mehr hat, nur noch leere Hülsen. Je weniger Fressen, desto lebhafter werden die Tiere. Eine Frage der Motivation, die würden alles machen für ein paar Körner. Irgendwann würden sie erschlaffen, dieser Sittich, wie war sein Name, Petra hatte es vergessen, damals als die Serie, Sturm der Liebe, begann, hatte sie es noch gewusst, aber heute, dieser Sittich würde auch erschlaffen, dann erstarren, starr werden, im Restmüll landen, oder in der Biotonne, wie war die korrekte Mülltrennung, auch das hatte Petra vergessen, kein gekochtes Fleisch in die Biotonne, der Sittich wäre ungekocht, nur starr eben, wohin mit solch einem Tier, in den Garten, das war bis zu einem gewissen Körpergewicht erlaubt, einen Rottweiler durfte man nicht im Garten vergraben, einen Sittich wohl schon, einen Wurm auf jeden Fall, wer sollte denn beweisen, dass der Wurm nicht eines natürlichen Todes gestorben war und schon in der Erde gesteckt hatte, ihn niemand dort begraben hatte, Würmer waren schon begraben, wie praktisch, dachte Petra, wer in der Erde lebt, kann nicht begraben werden, vielleicht müsste der, im Gegenteil, belüftet, besser gelüftet werden, geliftet, von unten nach oben, an die Luft kommen, dann würde die Beerdigung unterirdisch stattfinden. Wie sollte das gehen, der ganze Gesang, die Predigt, das Maul voller Erde statt des Streuselkuchens, Unsinn, belüften und begraben, aber praktisch war es schon. Geboren werden unter der Erde, begraben werden, ohne überhaupt je gesehen worden zu sein, so unauffällig, so bescheiden, so unbedeutsam, so nichtig. Nein, für sie wäre das nichts, dachte Petra, zu einem Begräbnis gehörte ein Pastor in schwarzem Kittel, eine ordentliche Rede, ein paar Lieder, vorher die Orgel für die Tränendrüsen, den Posaunenchor konnte man sich sparen, Gruftmucke war das für die, die wussten meistens gar nicht, wer im Sarg lag, das war einfach unpersönlich. So nicht.
Petra suchte nach der Fernbedienung um umzuschalten. Ach, es gibt ja gar einen Fernseher, was also sollte eine Fernbedienung für einen Sinn haben? Der Sittich, wie war noch sein Name, pickte an einem kleinen, runden Spiegel, der in seinem Käfig hing, eine kleine Glocke klingelte scheppernd. Die Zimmerecke schwieg. Petra dachte: Wie gemütlich. Es muss auch mal so gehen. Wie sie doch über alles nachdenken konnte. Der Tod war immer ein Tabu gewesen, genau wie Regenwürmer. Die waren eklig, Gustl hatte mal einen für 50 Pfennige verschluckt. Ups, das Anfassen war ihr schon schwer gefallen, aber das war eine Art Mutprobe gewesen. Regenwürmer stanken, so als sei ein Schwein geschlachtet worden und hinge auf der kühlen Diele an einer Leiter. Besser die Hand vor den Mund, die Luft angehalten und nicht geatmet. Morgen wurde gewurstet, der Geruch war angenehmer, wärmer, fast köstlich. Ruhig baumelt damals die
zusammengenähte Schweineblase, die der Hausschlachter aufgeblasen hatte, am Ofen, um zu trocken. In sie sollte die beste Mettwurst gefüllt werden. Noch war nicht morgen. Jetzt war Abend, ein Fernsehabend ohne Fernseher, Zeit für sich, Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Spinnen, ja, genau, zum Spinnen, dachte Petra. Wie sinnlos, einen Fernsehrabend ohne Fernseher zu verbringen, ohne Fernseher, sinnlos einfach, das konnte kein Fernsehabend sein. Das war Terror oder Ausdruck einen schweren Neurose. Wer war auf eine solche Idee gekommen. Der Sittich klapperte am Gitter, vielleicht sollte ich ihn füttern, dachte Petra. Vielleicht aber auch nicht, und steckte sich noch zwei Chips in den Mund.