Günter Krass: Erinnerungen - Brillenschlangen


Mobbing war damals noch gar nicht erfunden, da wussten wir schon, wie es geht. Es ging um Fertigmachen. Wir brauchten keine englischen Wörter, um effektiv zu arbeiten. Ein Prozess lief unbewusst ab, aus einer Art Selbstschutz. Schnell einen fertigmachen, bevor man selbst dran war. Dran war man trotzdem immer irgendwie, ausgenommen die Großmäuler, die waren häufig zu dumm, um das subtile Fertigmachen zu kapieren. Sie dachten, sie wären die Größten und blieben bei ihrem Irrglauben. Häufig bis heute.
Brillenschlangen waren arm dran. Heute ist es fast ein Makel, keine Zahnklammer oder eine Brille, wenigstens eine Lesebrille, zu tragen; früher war der Brillenträger, die Brillenschlange eben, gleichgesetzt mit Verlierer, mit einem Weichei, dem die Kniescheiben ständig rausflogen, mit Menschen, die Ärmelschoner trugen, die hinfielen, wenn andere stehen blieben, die so langweilig waren, dass man gähnen musste, wenn man neben ihnen stand.
Brillenschlangen hatten nichts mit dem tödlichen Tier zu tun, die kalte Kobra war nicht Synonym für die Sehhilfeträger, eher wohl die Blindschleiche.
Brillenschlangen kauten vor der Klassenarbeit Traubenzucker und gingen am Abend davor noch früher ins Bett.
Glasbausteine nannten wir ihre Hilfsmittel, den Körper hinter der Brille häufig Kassengestell und deuteten an, wie hässlich das Drahtgebilde auf ihrer pickeligen Nase war.
Mobbing war das vielleicht doch nicht: Wir waren zu klein, zu dick, zu langsam, hatten eine Hasenscharte, schossen Popel, hatten abstehende Ohren, heulten, wenn der Lehrer mal schrie oder wenn ein Gewitter in die Stunde krachte.Wir boten in der Gesamtheit die besten Projektionsflächen für unentwickelte Mobber.Aber, wir waren zuerst auf die Idee ohne Namen gekommen. Selbstschutz!, ahnten wir, ohne das Wort zu kennen. Erst mit dem Heranwachsen der Psychologen sollte uns allen der Sinn des Tuns bekannt werden.
Der Sohn des promovierten Lateinlehrers flog in jeder Pause als Düsenjet über den Schulhof, zumindest machte er die Geräusche und rannte mit ausgebreiteten Armen kreuz und quer, ziellos, ohne erkennbaren Plan. Wir erklärten ihn für verrückt und hätten ihn gern abgeschossen. Er reagierte aber nicht auf unsere Flak-Geräusche. Irgendwann landet er auf einem Internet oder in der Klapse, folgerten wir, und versuchten, nicht mit ihm zu kollidieren. Was hätte so ein GAU für Auswirkungen auf die Noten gehabt!
Wir hielten uns an die unauffällige Brillenschlange, der wir die Aufmerksamkeit zugestanden, die ihr sonst versagt geblieben wäre. Im Grunde waren wir gute Menschen, gute Menschen mit dem Hang zum Selbstschutz. Wenn wir es nur damals schon so hätten ausdrücken können, dann wäre uns 2% des schlechtenGewissen erspart geblieben.