Henri von Glucksrad-Karre: Nackt


Da liegt eine Dame mittleren Alters in der Badewanne und macht Reklame für eine bestimmte Wannensorte oder irgendein Wellnessspektakel, das man zu Hause veranstalten kann. Sie trägt einen Bikini, von dem man nur das Oberteil sehen kann, das untere ahnt man, es liegt unter Wasser. Das Wasser sprudelt. Hallo, was ist das denn?, fragt sich der normale Mensch und denkt weiter: Wieso steigt hier eine Frau im Bikini in die Wanne, um sich der Körperreinigung oder einer Wellnessanwendung hinzugeben? Das ist ja so, als würde man nackt ins Freibad springen und sich dort ordentlich einseifen. Den Bademeister hätte man stante pede an frisch gewaschenem Hals, ein Verweis wäre die Folge. Zu Hause stolzieren keine Bademeister mit ihren Trillerpfeifen, zu Hause herrscht das Nachdenken: Warum, um alles in der Welt, steigt die Frau mit, wenn auch spärlicher, Kleidung ins Wasser? Die kann ja gar nicht richtig sauber werden, dazu müsste sie sich der Kleidung doch entledigen!
Und dann schießen uns die Archtypen der 50er und frühen 6oer in den Kopf, Adrenalin wird ausgeschüttet, wir schauen uns unsicher um, so als beobachtete uns jemand: Die Angst vor dem Nacktsein hat uns wieder.
Mein Cousin Hotte badete damals auch in Badehose, dazu sei die ja da, behauptete er felsenfest, und weigerte sich standhaft, seiner Mutter, die darob in Sorge jetzt häufiger im Badezimmer herumwieselte, zu zeigen, was unter der Hose verborgen war. Die Tante zweifelte schließlich am Geschlecht ihres Kindes, weil sie sich nicht mehr erinnern konnte, was sie denn damals geboren hatte.
Alpträume plagten uns Jungen. Im Dorgemeinschaftshaus liefen wir im Unterhemd herum, ohne Unterhose, das Hemd gerade lang genug, unsere Blöße zu bedecken, aber keinen unbedachten Schritt, keine ungelenke Bewegung durften wir riskieren, damit wir bedeckt blieben. Das Unterhemd war gleichzeitig Oberhemd.
Wie wanden wir uns nach dem Sport, nackt mit anderen zu duschen. Oder vor dem Benutzen des Lehrschwimmbeckens! Angeblich verstopften Seifenreste die Abflüsse und machten das Becken unbrauchbar.
Die Lehrer kontrollierten und wir wandten ihnen unsere nackten Ärsche zu, was ihnen genauso gefallen haben mag wie die Frontansicht.
Nacktsein war Scham, war Demütigung, war Bloßstellen. Der Schutz der Persönlichkeit war dahin, so als wären vom Staatsanwalt Abhörgenehmigungen erteilt worden, Fleischbeschau inbegriffen, alles mit der Begründung, für Hygiene und Gesundheit zu sorgen und die Abflüsse frei zu halten.
Da kann man verstehen, wenn heutzutage, wo sich jeder unaufgefordert entblößen will, Menschen das Bedecken wiederfinden. Wenn die Badehose, der Bikini, der Badeanzug Aufsehen erregen, wenn sie im Geheimen getragen werden. Und es ist mittlerweile völlig egal, ob die Seifenreste, die sich bei der Körperhygiene in der Kleidung sammeln, die Abflüsse verstopfen oder nicht.
Ein Mythos ist endlich zerstört worden. Seife aus Badehosen verstopft Abflüsse! Unglaublich!
Wie dumm waren wir damals gewesen, freiwillig nackt zu duschen. Heute wäre doch jeder Schulmensch froh, wenn überhaupt geduscht würde, selbst in voller Montur. Seit Erfindung des Deospray haben sich die Parameter verschoben.
Was regen wir uns da über Frauen in Bikinis in der Badewanne auf? Man muss ja nicht hinsehen.