Günter Krass: Neue Zähne braucht der Mund

Lächeln. Fiete bemüht sich. Das, was er als sein strahlendstes Lächeln ansieht, wirkt auf die Verkäuferin an der Fleischtheke wie das verlogene Grinsen eines Vegetariers, der sich eine Scheibe verblichene Mortadella fordert, die ganz vorne in der Auslage liegt, damit sie sich vornüberbeugen und strecken muss um sie zu zu erreichen. Damit dieser pflanzenfressende Grinser ihr in den Ausschnitt schielen kann.
Fiete ist kein Vegetarier und der Ausschnitt der Fleischfachverkäuferin interessiert ihn wenig, weil sie ihm zu dürr ist. Hinter eine Fleischtheke gehört etwas Dralles, Pralles, Üppiges, etwas, woran man sich festhalten kann, wenn man einmal ins Wanken gerät, weil das Leben so schwankt.
Mortadella will er nur, weil Fiete Probleme mit den S-Lauten hat. Salami. Um Salami zu bitten klänge einfach lächerlich. Oder Fleischwurst. Noch schlimmer, zwei Hürden zu überwinden, die nicht zu überwinden sind. Das mag an seinen neuen Zähnen liegen, die ihm der Zahnarzt letzte Woche verpasst hat. Irgendwie passt nicht mehr alles so in den Mund, wie das vorher einmal war. Fiete hat ein Gefühl, als sei die Zunge gewachsen und plötzlich zu lang. Mortadella, sagt Fiete, 6 Scheiben, nicht zu dünn. Mortadella, denkt Fiete, nicht gerade gesund, was da alles drin sein soll, Hühnerfedern hat man, aber wer ist schon man?, jedenfalls soll man die schon drin gefunden haben, kleingeschreddert und gemahlen, verquirlt mit anderem Unrat und Fett, Bindemittel und Farbstoff und Gewürzen natürlich, Gewürze, wichtig, damit die Wurst nach etwas schmeckt, immerhin ist kein S in Mortadella.
Fiete schielt kurz in der Ausschnitt der Fleischwurstfachverkäuferin, oder hieß es Flachfleischverkäuferin, Fiete ist verwirrt, denn er kann direkt in den Kittel gucken und die fleischigen Ausbuchtungen sehen, sogar den Nippel der linken Brust, Fiete schluckt, eigentlich findet er dünne Frauen hinter Fleischtheken doch nett, Salami, lispelt er mit seinen neuen Zähnen, Salami da, nein, hier, ganz vorne, aus der ersten Reihe bitte, stammelt Fiete, die Verkäuferin reckt sich erneut und Fiete starrt in den Kittel auf den Nippel der rechten Brust. Das ist aber Sommerwurst, sagt ihm die nippelige Verkäuferin.
Fiete denkt, wie gut, dass ich nicht doch zum Vollvegetarier geworden bin, so hatte er immer noch die Entscheidungsfreiheit, sich eine Scheibe Wurst mit nach Hause zu nehmen.
Sommerwurst, achso, lispelt Fiete verwirrt, neinnein, hier vorne bleiben, die Nippel sind gerade verrutscht, weil die Fleischdame sich zurückziehen will, jaja, Sommerwurst, hier aus der ersten Reihe, zwölf Scheiben, und Salami, sechs Scheiben, ja, genau, oder doch sieben?
Fiete ist im Kaufrausch, was gibt es noch in der ersten Reihe hinter dem Glas? Die Verkäuferin hat die Wurst auf den Packtisch gelegt, ausgewogen und eingepackt. Darf es sonst noch etwas sein?, fragt sie. Schonschon, langzüngelt Fiete, äh...wie bitte, er wacht auf, hat geträumt, von heute Abend, äh, nein, nichts, danke, das wär’s...Wo war denn die Frage geblieben: Darf’s auch etwas mehr sein? Darauf wartet der Kunde doch.
Die Verkäuferin lächelt, Fiete grinst sein schönstes Grinsen, mehr ist mit den neuen Zähnen nicht drin.
Schönen Tag noch, lispelt er, gleichfalls, antwortet sie. Fiete addiert: 24 Scheiben Wurst hat er jetzt in der Hand. Wer soll die bloß essen?