Günter Krass - Erinnerungen: Hässliche Puppe

Wie hieß es früher, wenn wir Grimassen schnitten: Dein Gesicht bleibt stehen! Es muss nur noch die Stubenuhr schlagen, dann bleibst du so hässlich. Und: Dass das nicht der liebe Gott sieht! Es wurde mit dem Zeigefinger gedroht und mit Hölle, wenn es nicht fruchtete. Das mit dem lieben Gott ist bis heute ein Rätsel geblieben: Der sah doch sowieso alles, hatten wir gelernt. Heimlich schnitten wir weiter Grimassen; heute empfiehlt man das sogar, um die Muskeln im Gesicht zu lockern. Das soll bei Verkäufern vekausfördernd wirken, und wer will nicht erfolgreich in seinem Beruf sein? Hässliche Puppen wurden uns vorgezeigt und darauf hingewiesen, dass man selber eines Tages so aussehen könnte, wenn man sein Verhalten nicht änderte. Keiner wollte so aussehen wie eine hässliche Puppe, wir dachten eher an die feinen Züge eines Winnetou oder das herb-markante Gesicht von Old Shatterhand. Wir achteten deswegen lediglich darauf, dass zur vollen Stunden niemand ein dummes Gesicht machte, was denen, die sowieso eins hatten unmöglich war, und schnitten in den knapp 60 Minten zwischen den Schlägen locker unsere schiefen Gesichter. Heute wissen wir, wenn wir hässliche Menschen sehen, dass die wohl nicht auf die Zeit geachtet haben. Vielleicht ging ihre Uhr auch ganz einfach vor.