Günter Krass: Erinnerungen - Verliebt in Fräulein Megis

Als Fräulein Megis den Raum betrat, war es um uns geschehen. Wir waren Drittklässler und schauten meistens gelangweilt auf den Tisch. Als Fräulein Megis vor uns stand, blickten wir auf und verliebten uns sofort. Kollektiv. Die Jungen. Die Mädchen wollten Fräulein Megis zu ihrer besten Freundin haben. Sie roch gut, sie hatte ein Strahlen in den Augen, sprach mit sanfter Stimme und lächelte so warm, dass uns das harte Eis aus der Milchhalle von Lükings in Sekunden geschmolzen wäre. Fräulein Megis aber liebte mich, nur mich, nicht die anderen, sie sah mich an und lächelte, und ich wusste, ich war ihre Wahl. Wenn sie mit den anderen sprach und diese anblickte, tat sie das nur, um nicht zu zeigen, dass sie mich liebte. Mich. Günter. Fräulein Megis schenkte uns allen ein Buch und wir durften es einer nach dem anderen lesen; als ich an der Reihe war, las ich es langsam und genussvoll. Ich roch an dem Buch, aber es duftete nicht nach Fräulein Megis. Es roch nach Schüler und Papier, ein Hauch von Zigarettenqualm haftete ihm an. Jürgens Eltern rauchten, er hatte das Buch vor mir gehabt.
Fräulein Megis war wie ein schönes Lied, wie eine Wolke, so leicht, so beschwingt, so sanft. Sie war bestimmt 15 Jahre älter als ich; aber sie würde warten, bis ich sie heiraten konnte. Fräulein Megis würde nicht altern, sie würde auch warten; Fräulein Megis war zeitlos, sie war ewig. Ich wusste wir waren für einander bestimmt.
Eines Tages verabschiedete sich Fräulein Megis von uns. Sie sagte, sie habe ihre Ausbildung beendet und schenkte uns ein weiteres Buch. Ich war starr vor Schreck. Wir waren seelenverwandt, wir waren füreinander bestimmt, und sie ging. Das war unmöglich! Es war möglich.
Ich merkte, dass auch die anderen trauerten; ein kollektiver Liebeskummer erfüllte den Raum.
Am nächsten Tag übernahm wieder unser alter Klassenlehrer Haddenhus den Unterricht; der roch relativ gut nach Rasierwasser, aber ihm fehlte die Ausstrahlung, dass man ihn für einen Seelenverwandten halten konnte.
Ich las das geschenkte Buch nicht, das war wohl etwas für Kinder. Ich aber war an dem Tag, als Fräulein Megis sich verabschiedete, erwachsen geworden und nahm mir den "Lederstrumpf" vor.