Mauerblümchen

Früher sagte man Mauerblümchen, heute ist das eher ein Mobbingopfer. Die Zeiten ändern sich, aus der floralen Verniedlichung des Einsamseins, des Ausgegrenztwerdens, wird das harte Wort Mobbingopfer. Damit würgt man dem Mauerblümchen noch eins rein, was den Mobber freut, den hilflosen Amrandesteher, der zur schweigenden Mehrheit gehört, treibt es die Tränen in die Augen, denn er kann da nicht helfen, weil er ja auch gar nicht will. Und das stört ihn am meisten. Er will gar nicht helfen, er wollte auch früher nicht mit dem Mauerblümchen sprechen, er hat es ignoriert, hat hinter seinem Rücken gelästert, hat Witze gemacht, hässliche Briefe geschrieben, sein Radiergummi versteckt und üble Gerüchte in die Welt gesetzt. Ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, denn das Mauerblümchen konnte wenigstens blühen, wenn auch in Grau. Aber heute, wo alle schönen Begriffe kaputt gemacht werden durch technokratisches Geseire, wo Blümchen zu Opfern werden, die schweigende Mehrheit plötzlich kriminell ist, obwohl sie nur am Tatgeschehen steht und nichts sagt, endlich einmal nichts sagt in Zeiten des medialen Geplappers, da kann man nur folgern, dass die wahren Opfer diese "Nichtsprecher in Überzahl" sind, diese Nichthandelnden, denn sie müssen verkraften, dass sie nicht helfen wollen, damit müssen sie leben, und damit lässt man sie allein, tagein und tagaus. Vielleicht kann dieses Wissen auch dem Mauerblümchen helfen. Nur - wer hilft der schwiegenden Mehrheit?