Günther Krass: Erinnerungen(4) - Die kleine Oma bei Gewitter

Die kleine Oma saß immer mit gepacktem Koffer an der Haustür und wartete, dass der Blitz einschlug. Besser gesagt, sie wartete, dass er nicht einschlug. Nur für den Fall, dass er es doch täte, hatte sie ihren Koffer dabei, um schnell das brennende Haus zu verlassen und auf die Straße zu rennen, um sich vor der Flammen und der herannahenden Feuerwehr zu retten; denn niemand wusste, in welchem Zustand Männer waren, wenn sie überrschend löschen mussten und vielleicht gerade aus der Kneipe heimgekehrt waren, in der sie einen neuen Schlauch samt B-Rohr und Stützkrümme gefeiert hatten. Sie trug ihren Mantel und feste Schuhe; darunter vermuteten wir ihr Nachthemd, da sie insgeheim betete, der Blitz möge das Haus verschonen und ins Bett zurückkehren zu können. Was sie im Koffer aufhob, war uns nicht klar, weder wussten wir, ob er leer war, noch, womit er möglicherweise gefüllt sein konnte. Die Blitze zuckten und die kleine Oma stieß ein Wimmern aus oder ein "Ogottegott", wenn der Donner zu arg krachte. Erst wenn die Blitz nicht mehr zu sehen waren und der Donner nur noch schwach grollte, entschied sie sich, den Platz an der Haustür zu verlassen und ins Bett zurückzukehren. Wir als Enkel durften während der dramatischen Ereignisse weder aus dem Fenster sehen, noch etwas essen, weil das Sünde sei und den Finger Gottes, der den Blitz aussandte, in dieses Haus lenke. Dabei war es so schön, diese Lichtorgel am Horizont zu betrachten, auch wenn der Donner bedrohlich mahnte, unser frevelhaftes Tun einzustellen. Wir riskierten trotzdem Haus und Hof, um den verbotenen Blick zu riskieren, denn die kleine Oma hatte die verpönten Worte "Ogottegott" - ein deutlicher Verstoß gegen das zweite Gebot - ausgesprochen, und damit vielleicht nicht den Blitz, aber möglicherweise die übereifrige Feuerwehr angelockt, die nach dem eigenen Durst irgendetwas anderes Löschbares suchte.