Günther Krass: Erinnerungen (3) - 1968 - Flügelhorn

Heimlich legte ich den Eltern einen Zettel in die Obstschale, auf dem ich mit nervöser Hand "Ich möchte gern Flügelhornspielen lernen". Das kam nicht in Frage, das wusste ich, nicht, dass die Eltern unmusikalisch waren, oder wirklich etwas hatten gegen den Posaunenchor, in dem dieses Unterfangen stattfinden sollte, nein, es ging, obwohl beiden nicht ganz klar war, um welches Instrument es sich wohl handeln konnte, da sie zwar einen Flügel und ein Horn zu unterschieden und zu benennen vermochten, nicht aber deutlich auf ein Flügelhorn hätten zeigen können, es ging darum, was die Leute, die sogenannten Leute, die man nicht näher bezeichnen konnte, die sich aber immer zu Wort meldeten, wenn es über andere etwas zu sagen gab, was diese Leute sagen würden, wenn das Flügelhornspielenlernen scheiterte, wenn der Auszubildende unfähige Lippen besaß oder ungelenke Finger oder eine Unmusikalität an den Tag legte, die nicht zu heilen war. Was würden die Leute sagen? Und wie stünde man anschließend da? Als Eltern eines Kindes mit schlaffen Lippen, arthritischen Fingern und einer Unmusikalität, die einen sofortigen Schulwechsel hätte nach sich ziehen müssen. Was würden die Leute dann noch mehr denken bei einem Schulwechsel? Undenkbar. Ich schluckte und verließ das Wohnzimmer in der Hoffnung, dass der Zettel gelesen würde, um das Unaussprechliche nicht von Angesicht zu Angesicht aussprechen zu müssen. Aber es war geschrieben, es war aus mir heraus, ich hatte es veröffentlicht. Jetzt hatten es die Verantwortlichen schriftlich. Jetzt mussten sie sich auseinandersetzen und mussten entscheiden. Die Antwort kam kurz darauf, sie lautete :Nein!
Ich überlegte, ob ich etwas falsch gemacht hatte. Hätte ich schreiben sollen "Ich möchte gern Flügelhornspielenlernen"?, also den Vorgang des Lernens näher an das Flügelhornspielen rücken und damit meine Lernwilligkeit bekunden sollen? Wo lag der Fehler? Zwei Tage später schrieb ich einen neuen Zettel "Ich möchte gern Trompete spielen lernen". Also, Gitarre wäre auch ok, dachte ich bei mir. (Zum Foto: Es muss nicht immer eine Bodenzither sein, manchmal tut es auch eins chlichtes Flügelhorn. Hauptsache, es ist laut genug, um gegen ein Akkordeon anzudröhnen.)