Kantenphysik - Wohin mit der Wissenschaft?

Manchmal fallen einem schöne und griffige Wörter ein: Kantenphysik ist eines.
Gibt es doch schon, mag der aufmerksame Mitmensch raunen und versucht den Denker zu desillusionieren.
Mitnichten. Letzterer meint die "Quantenphysik" und versteht darunter vielleicht die Vermessung der Fußsohlen.
Kantenphysik. Was soll das sein?
Jeder weiß, wer an eine Tischkante geschrammt ist, empfindet Schmerz.
Wer sich die Kante gegeben hat, den plagt wütender Kopfweh und Übelkeit.
Wer über die Kante gesprungen ist, liegt im Abgrund.
Hier setzt die Kantenphysik an: Wer unlustauslösende Situationen vermeiden will, bleibt einer Kante fern. Das hat Freud schon präziser formuliert und daraus seinen Mutterkomplex entwickelt.
Über die Tischkante wurden nach der Mahlzeit die Krümel gewischt und im Spültuch aufgefangen; der Rest landete auf Boden und wurde später gefegt und in den Boden massiert.
Der Krümel ist Metapher für das Kindsein; ein gestörtes Verhältnis zur Mutter entspringt diesem Tun.
Die Kantenphysik beschäftigt sich in erster Linie mit den angrenzenden Flächen einer Kante, die sie letztlich definieren, denn ohne Flächen keine Kante. Dabei geht es um den Winkel, in dem die Flächen zueinander stehen. Der 90°-Winkel ist die ideale Situation, je weiter er gegen 180° geht, desto mehr nähert er sich einer Gesamtfläche aus zwei einzelnen Flächen. Das Dagegenrammen wird mit der Näherung an 180° immer schmerzfreier.
Wäre das Ganze im Weltall zu finden und die Kante ist unendlich, also eine Gerade, dann würden zwei unendlich große Flächen zusammengefügt und die doppeltflächige Unendlichkeit wäre erfunden. Die gibt es allerdings nicht, denn 2x unendlich ist immer noch unendlich. Auch das Wort Supermarkt lässt sich bekanntlich nicht steigern.

Das unlustauslösende Moment der Kante ist aber auch abhängig vom Betrachter, will sagen, dem Betroffenen. Eine Ameise nimmt eine Kante anders wahr als ein ausgewachsener Mensch. Die Bakterie lacht über die Kante, denn sie weiß gar nicht, dass es sie gibt.
Je kleiner das Subjekt (Ameise, Mensch, Bakterium), desto tiefer wirkt die Kante als Abgrund, wenn sie einen 90°-Winkel bildet. Je mehr sie in Richtung 180° kommt, desto eher ähnelt sie dem Idiotenhügel in einem österreichischen Skigebiet.

Was auf den ersten Denkversuch einleuchtend erscheint, erweist sich aber in der Praxis als schwer nachzuvollziehen. Die Ameise ignoriert den Abgrund und läuft ihn hinunter ohne abzustürzen, die Bakterie lebt gar nicht lange genug, um den weiten Fußmarsch, in den Abgrund zu schaffen; vorher ist nämlich Mutter mit dem Wischlappen da und schmiert eine Millionengruppe anderer Bakterien über den Wanderer.
Vor allem bleibt es nicht bei den 90°-Kanten. Wenn unter der Kante gar nichts mehr da ist, dann nähert sich der Winkel immer mehr den 0°. Je näher er dem kommt, desto unangenehmer für Bergsteiger, die an Felskanten hängen, die eigentlich eine Wand sein sollten. Da heißt es gut kraxeln, sonst geht es sturzartig nach unten.
Je näher der Winkel den 0° kommt, desto eher entsteht eine Doppelfläche, weil die vormals senkrechte Wand nach unten und hinten weggeklappt auf der Unterseite der oberen Fläche zu haften kommt. Das klingt kompliziert, ist aber unerheblich, weil Flächen an sich keine Dicke aufweisen und so eine Doppelfläche bilden, die genauso dünn ist wie vorher, nämlich 0. Dicke Flächen nennt man Quader.
Alles in allem erkennt man, dass Kantenphysik das Leben nicht leichter macht, vielmehr erscheint das Alltägliche kompliziert und entspricht der Bedienungsanleitung für einen DVD-Rekorder.
Dabei sollte Wissenschaft immer dem Menschen dienen; wenn es aber leichter ohne geht, sollte das Wissenschaft auch zur Kenntnis nehmen und sich dezent zurückhalten. Wo keine Probleme sind, sollte die Kantenphysik auch keine schaffen. Ein zufriedenes Volk lässt sich leichter regieren, sodass man Außenseiter zur allgemeinen Belustigung fragen kann: Von welcher Kante kommst du denn?
Ein Lachen befreit und hat noch keinem geschadet. Und das ist mehr als weniger ausländerfeindlich.