Wenn Brüder küssen...

Damals haben wir gelernt: Brüder küssen sich nicht. Und wer keinen Bruder hat, der küsste seinen Cousin nicht! Mädchen werden nicht angefasst, und sich selbst fasst man nur zur Körperreinigung an. So sind wir früh selbständig geworden, was heißt, wir konnten ohne andere Menschen auskommen.
Dann kam der Ostblock mit seinem FKK und seinen küssenden Staatsoberhaupten und hat den Westen mores gelehrt. Küssen müssen Brüder um ihre Bruderschaft zu erneuern, zu festigen, zu besiegeln.
Und ganz allmählich hielt diese Sitte Einzug in einen Bereich, von dem nie einer gedacht hätte, er würde sich aus seinem erzkonservativen Thekendasein herausentwickeln: In den Fußball. Da wälzten sich die Torschützen nicht mehr allein auf dem Rasen, um ihre Freude über den Torschuss zu kompensieren, sondern rannten dem freudig erregten Mannschaftskameraden in die offenen Arme. Es wurde plötzlich geherzt, zu zweit, zu dritt, zu viert, manchmal wälzte sich die ganze Mannschaft vor dem Tor des Gegners. Den Zuschauer befremdete das vielleicht, aber der Erfolg gab den Spielern recht, und wenn der Fan Tore sieht, mag er nicht meckern. Lass die Jungs ihren Spass!, grunzte Herbert hinter seinem Pils, und alle waren es zufrieden.
Heute ist es Gang und Gäbe, dass sich alle Welt umarmt und herzt und küsst, erst links, dann rechts, dann links, ohne es wirklich ernst zu meinen. Man macht das eben so. Es sei denn, es herrscht wieder Schweinegrippe; da schnäuzt man dezent in die Armbeuge und freut sich, wenn man saugfähiges Material auf dem Leib trägt.