Günter Krass: Strumpfhosen (2005)

Hilfe! schreit Rita, weil sie eine Laufmasche im Strumpf hat, in den Nylonstrümpfen, solchen denen man mit einem eingerissenen Fingernagel nicht zu nahe kommen darf, nicht weil vielleicht eine unlautere Absicht unterstellt werden oder vielleicht dieser Fingernagel, bzw. sein Riss, eine weitere Laufmasche erzeugen könnte, sondern weil es ein Gefühl ist, das Gänsehaut zur Folge hat. Es gleicht dem billigen Satin-Schlafanzug, den Karl in Kindertragen tragen musste, weil er nun einmal geschenkt worden war, der innen angeraut war, aber außen eine unerbittliche Glätte hatte, die jede Unebenheit an einem Nagel übel nahm und bestrafte. Durch eine Gänsehaut nämlich, die entstand, wenn nun dieser Nagel über den glatten, ekligen Stoff strich und irgendwie, eigentlich unmöglich, hängen blieb. Rita schreit um Hilfe, weil ihr Lebenskonzept oder ihr Tagesplan in Gefahr ist. Die Laufmasche bedroht die wesentlichen Sicherheiten in ihrem Leben: Ihre Schönheit oder ihre Unversehrtheit. Der unverletzte Strumpf ist gleichzeitig Symbol ihrer Reinheit, ihrer seelischen Jungfräulichkeit, die sich jede Frau neu erwerben kann, wie sie glaubt, wenn sie sich neu verliebt und dies aus ganzem Herzen tut. Hilfe, eine Laufmasche! Vielleicht ist der Strumpf sogar eine Strumpfhose, was den Schaden nur größer machte, den seelischen in erster Linie, denn die Strumpfhose ist nicht nur das Instrument, das die diversen Unterbekleidungen zusammenhält, die nicht nur ein weiterer, wenn auch dünner Schutz vor Kälte ist, sie stellt vielmehr die Jungfräulichkeit dar, postuliert sie, erneuert sie sogar, wenn es denn sein muss. Die Strumpfhose mit dem verstärkten Zwickel ist Zivilisation, ist Kultur, ist Sitte und Gesetz, ist die Sicherheit, der man sich sicher sein will. Sie ist Herberge dem Allerheiligsten, dem, das es zu verschenken gilt den Auserwählten, den Edlen. Immer aber ist Rita missbraucht worden, ihre Leicht- oder Gutgläubigkeit, andere nannten es Naivität, denn es waren keine Edeln, die Auserwählten waren nur von Rita und keiner höheren Macht auserwählt oder hatten sich selber auserwählt. Hilfehilfe, schreit Rita, mein Leben ist futsch!
Die Strumpfhose, die dünne Maske ihrer Sexualität, ihres Menschseins, ihres Frauseins, ist beschädigt und jeder kann es sehen.
Karl steht in der Nähe und fragt sich, was los ist. Eine Laufmasche, das kann und darf nicht wahr sein!
Strumpfhosen haben ihm nie gefallen, immer ist er mit seinen eingerissenen Fingernägeln hängen geblieben, und die wenigen Male, wo er in die Nähe von Beinen, von Frauenbeinen und deren Strumpfhosen gekommen ist, sind ihm verdorben worden. Er kann nicht verstehen, was Hilfeschreie wegen einer billigen Strumpfhose bewirken sollen.
Trübsinnig schaut er Ritas Bein entlang. Ihr Kleid ist geschlitzt. Das ist absurd.

Ein geschlitztes Kleid mit einer Strumpfhose kombinieren. Das ist Aufforderung zum Tanz, während man selbst im Rollstuhl sitzt.
Das ist die versklavte Erotik, die Kasteiung der Verlierer, die nie das schönste Mädchen abbekommen, die Kreuzigung der ewig Letzten, die verstohlen an ihren Zigaretten nuckelten und heimlich die Knutschenden beobachteten und sich keine Regung in der Hose gönnten, weil sie um ihr Scheitern wussten.
Verdammt, denkt Karl, Rita ist eine Frau, ich bin ein Mann.
Was daran ist bitteschön falsch? Ich will doch auch nur das Eine, das alle wollen. Immer und immer wieder. Geliebt werden. Und, Rita, wäre deine Strumpfhose voller Laufmaschen, ich würde dir eine weitere Laufmasche machen und dafür, dass du sie schweigend hinnimmst, würde ich dich nur noch mehr lieben.
Ritarita.
Ich bin doch nur ein Mann.