Andi Doth: Trügerisches Rot

Was erwartet man von Rot? Erotik, Feuer, Spannung, Energie, Lebensfreude. Keine Farbe ist mit mehr Begriffen besetzt als diese Farbe. Hier wird die versagte Liebesbeziehung kompensiert, der Frühjahrsmüdigkeit, die sich als Sommerschläfrigkeit erweist, entgegengewirkt, die Kraft geschöpft, dem Chef mal gehörig den Marsch zu blasen, der Nachbarin endlich ein Friedensangebot über den Komposthaufen zu werfen und den neuen Ferrari doch auf Ratenzahlungsbasis zu bestellen, in Rot natürlich. Nun greift man zur Erdbeere, die rot und reif, all das erfüllen soll, deren Aroma die Konzentration aller Begehrlichkeiten sein muss, und beißt in sie hinein, stellt fest, dass sie eher wie eine Tomate schmeckt, eine holländische, neutral und nicht definierbar, feucht und etwas matschig, und die Scheinwelt implodiert im Schädel. Niedergeschlagen greifen wir zur Schlagsahnespritze, um dem Ganzen noch etwas Zucker und Fett zu geben, dazu einen Hauch künstlicher Vanille. Tomate mit Schlagsahne. Ein Trost: Tomaten sind auch rot. Ein Rat für den Obstesser mit seinen Lebenslügen: Greif lieber zur Stachelbeere, die schmeckt wenigstens wie sie aussieht!