Mutter, Kind und Seeschlange

W.Hackeböller: Kachel 4/126 - Mutter, Kind
und Seehuhn (2013)
Mutter und Kind schwammen im Ozean, als das Kind eine Seeschlange entdeckte.

Mutter, Mutter!, schrie es. Eine Seeschlange.

Kind, beruhigte die Mutter, es gibt keine Seeschlangen.

Aber dahinten sehe ich doch eine, dann muss es ja wohl welche geben, ließ das Kind nicht locker.

Pappalapapp!, erwiderte die Mutter und schwamm mit kräftigen Stößen gen Amerika. Seeschlangen sind eine Erfindung der Märchenbücher.

Mutter, Mutter, jetzt das Kind, Märchenbücher können doch gar nichts erfinden. Da kann man doch höchstens etwas reinschreiben, was man erfunden hat.

Hast du wieder in deinem Märchenbuch rumgekritzelt, Kind? Ich habe dir tausendmal gesagt: Kritzel nicht in deinem Märchenbuch herum!

Die Mutter wurde allmählich ungeduldig, denn der Weg nach Amerika war noch weit und unterwegs lauerten immer allerlei Ungeheuer. Ausgenommen Seeschlangen, denn die waren eine Erfindunge der Märchenonkels.
Das ist eben eine Erfindung der Märchenonkels, wetterte die Mutter zurück, und jetzt sei ruhig und spar deine Kräfte für den Rest des Weges.

Mutter, Mutter, ist der Plural von Onkel nicht Onkeln?, fragte das Kind, nachdem es 14 Minuten geschwiegen hatte.
Mutter, Mutter?

Die Mutter befand sich bereits im ersten Körperdrittel der Seeschlange, die es eigentlich nicht gibt.

Mutter, wenn du nicht antwortest, schwimme ich wieder zurück! Ich wollte sowieso nicht nach Amerika.

Die Seeschlange würgte ein wenig, denn die Mutter trug einen Neoprenanzug. Deshalb rutschte sie schlecht.

Ein Königreich für eine kühles Helles, dachte die Seeschlange, nur zum Runterspülen.

Die Mutter dachte: Die neuen Neoprenanzüge sind sehr eng und rutschen nicht. Und überhaupt, dass es schon dunkel ist. Ich werde ja wohl nicht in einer Seechlange stecken?

Die Seeschlange dachte: Ich hätte das Kind nehmen sollen, auch wenn es kleiner ist.

Das Kind dachte: Gut, dass es keine Seeschlangen gibt. Es heißt Märchenonkel. Die Märchenonkel. Klingt komisch, irgendwie weiblich.
Die Märchenonkel, des Märchenonkels aber. Dem Märchenonkel, den Märchenonkel.
Die Märchenonkel, der Märchenonkel. Plural Genitiv wie Singular Nomintiv? Komisch, komisch. Einfacher wäre es, wenn es Seeschlangen gäbe, dann wäre die Frage nach dem Plural von Märchenonkel gar nicht erst aufgetreten. Mutter? Können wir uns nicht darauf einigen, Mutter, dass es doch Seeschlangen gibt? Mutter?

Der Ozean wogte und machte sich um unbeantwortete Fragen keine Sorgen. Morgen.
Morgen war ja auch noch ein Tag.
Und übermorgen. Und überübermorgen.