Mensch und Seehund

Früher war das Verhältnis von Mensch und Seehund noch ungetrübt. Da konnte jedermann seinen müden Arm auf dem Schädel des Meeressäugers legen; der freute sich und glaubte, dass das eine besondere Art der Zuneigung sei, die ihm der Zweibeiner entgegenbrachte, welche ihn aus der Masse der Meeresbewohner heraushob.
Der Mensch zog sich sogar nackt aus, um dem gänzenden Fell des nassen Seehundes möglichst ähnlich zu sein, und jener weiterhin glaubte, dass sich Mensch und Tier in inniger Freundschaft befänden. Der Mensch aber hatte nur die Absicht, immer, wenn ihm danach war, seinen müden Arm auf den Schädel des freundlichen Tieres zu legen. Ab und zu spendierte er ihm sogar eine Dose Ölsardinen, die dem Tier aber schlecht bekam, da es vergaß, die Dose vor dem Verzehr zu öffnen.
Später, als sich die Menschen wegen ihrer Nacktheit schämten und Kleider anzogen, brachten sie dem Seehund bei, mit Bällen zu jonglieren und kontaminierten Hering aus der Luft zu fangen, der aus sechs Meter Entfernung von Tierpflegern zugeworfen wurde. Mit Kleidung und Wurfentfernung schlich sich auch eine unüberwindbare Distanz zwischen die Freunde; der Mensch begann dann, den Seehund zu ignorieren und nicht einmal Schuhe oder Portemonnaies aus dem gegerbten Fell zu tragen, weil es angeblich doof aussähe, bzw. völlig retro.
Die Seehunde aber waren enttäuscht, denn seit Jahrhunderten  hatten sie sich gewünscht, den Menschen Freunde zu sein, um vielleicht einmal als Hütehund auf die Herde Merinoschafe aufzupassen.
Seit aber die Synthetikbranche die ganze Wollpulloverindustrie zurückgedrängt hat, werden Hütehunde immer weniger gebraucht, häufig tut's sogar die Katze schon oder ein tollwütiges Meerhschweinchen.
Arme Seehunde, singt der Kapitän des Feuerschiffes Elbe 1, wer hat euch verraten?
Immer wenn das Lied erklingt, heulen die Seehunde und wälzen sich auf den eigens aufgestellten Seehundsbänke, die nur noch der Unterhaltung gelangweilter Touristen dienen.