Zeichen der Zeit: Offene Schubladen

Jeder wird sich fragen: Was kann daran schlimm sein, dass Schubladen offen stehen? Eigentlich wohl nichts. Oberflächlich betrachtet. Aber die Vorstellung – angenommen du liebst es, dass Schubladen geschlossen sind – mit einem Menschen die Wohnung zu teilen, im Extremfall sogar verheiratet zu sein, der Schubladen, nachdem er sie geöffnet und das Gesuchte oder Gebrauchte entnommen hat, diese nicht schließt, d.h. schon schließt, aber eben nicht ganz, sagen wir, 3cm ragt die Lade noch aus dem Schrank heraus, die Vorstellung also kann belastend sein; vielleicht treibt sie keinen Nachtschweiß wie nach Albträumen hervor, aber sie kann für unruhigen Schlaf sorgen.
Dass jemand Schubladen, die in der Basisposition geschlossen sind, zwar bedarfsgerecht öffnen kann, dann aber nicht verschließt, teilt doch einiges über die Persönlichkeitsstruktur mit. Was ist los mit diesem Menschen?
Gehen wir erst einmal vom Normalen aus: Eine Schublade ist verschlossen, um das Eingelagerte vor Staub zu schützen und um durch Öffnen schnellen Zugriff auf Gesuchtes zu ermöglichen, das in einer thematisch zugeordneten Lade Platz gefunden hat. Besteck findet man in der Besteckschublade. Gummibänder hingegen in der , nennen wir sie Gerümpelschublade, den Pfannenwender in der Abteilung für Küchenwerkzeuge, Heftpflaster in der Notfallabteilung zusammen mit der Abszesssalbe, dem Leukoplast und den Fotos vom letzten Betriebsausflug. Das Schubladendenken der Menschen findet hier eine nützliche Entsprechung. Der Mensch erleichtert sein Leben durch Ordnung. Er beschäftigt sich einen guten Teil des Lebens damit, Dokumente, Andenken und Teile, von denen er nicht weiß, ob er sie einfach wegschmeißen darf, zu ordnen, um sie im Ernstfall wiederzufinden und bereit zu haben; darüber hinaus ist es gut, wenn diese Dinge vom Tisch sind, falls einmal überraschend Besuch kommt. Erklärungen, warum die Einmachhilfe auf dem Fenstersims liegt, sind dann nicht nötig, und der Haushalt macht immer einen aufgeräumten Eindruck. Die geschlossene Schublade ist Ausdruck des entwickelten, selbständigen und selbstbewussten Menschen. Sein Leben ist geordnet; das Wesentliche ist sichtbar, das Nebensächliche in Schubladen verborgen, aber jederzeit präsentierbar. So können wir kommunizieren: Ich zeige dir, Fremder oder entfernter Bekannter, das, worauf es mir ankommt. Aber es sollen Geheimnisse bleiben, die es zu entdecken gilt. Wenn der oder die Richtige kommt, heißt es im übertragenen Sinn: Öffne meine Schubladen. Sieh, was in mir steckt. Dem Schrank werde ich ja überhaupt erst gerecht, wenn ich seine Gestalt respektiere: Diesem harmonischen Holz- und Glasquader, in dem, äußerlich auf die kleinsten Maße gebracht, so viel steckt. Wie wäre unsere Welt, wenn überall und jederzeit Schubladen und vielleicht sogar Schranktüren offen stünden. Unerträglich! Der Schrank in seiner wohlgefälligen Grundstellung vermittelt Sicherheit: Es gibt mehr, als wir sehen können. Er hat somit metaphysische Funktion, er führt uns sensibel in die Geheimnisse des Lebens; wenn denn seine Schubladen und Türen geschlossen sind.
Das akzeptieren einige Menschen nicht. Der unheile Mensch benutzt den Schrank, um sich immer wieder einer ihm adäquaten und angeratenen Therapie zu entziehen. Er benutzt ihn, um sich tagtäglich in eine Schludrigkeit zu fliehen, die ihm eines Tages fatal entgegenstürzen wird. Und damit nicht genug: Er quält und missbraucht den entwickelten Menschen.