Vom Lande: Der Tod lebt mit (3)

Piete hatte Kaninchen, Bodo keine. Bodos Vater hattet einmal ein Kaninchen geschlachtet, das sich nicht hatte schlachten lassen wollen und bis zum Schluss gequiekt hatte. Seitdem gab es keine Kaninchen mehr für Bodo, denn der Vater wollte keine Kaninchen mehr schlachten. Kaninchen waren die schönsten Tiere, mit denen man spielen konnte, ohne sich ständig um sie zu kümmern. Hatte man Streichelbedarf, klappte man die Stalltür auf und streichelte, bis man genug hatte. Ab und zu gab es für die Kaninchen ein Kohlrabiblatt oder etwas Löwenzahn. Kaninchen waren weich, außer wenn sie kratzten oder bissen, weil man sie falsch angefasst hatte oder sie einfach nicht gestreichelt werden wollten. Kaninchen waren schöne Tiere, die auch Namen hatten, Froggy zum Beispiel, obwohl das eher der Name eines englischen Frosches sein könnte. Kaninchen konnten auch gegessen werden. Das hatten sie mit Schweinen und Hühnern gemeinsam. Vorher musste man sie schlachten. Kaninchen wurden, wie Schweine, nicht öffentlich geschlachtet, dass heißt, Bodo und Piete suchten freiwillig das Weite, um nichts zu sehen und überhaupt gar nichts zu hören. Kaninchenschlachten war Arbeit für Fachmänner, der Karnickelfangschlag musste gesetzt werden, es wurde mit dem Messer gearbeitet, es wurde gestochen und geschnitten, in die Kehle, das war nicht jedermanns Sache, Bodos Vater hatte schon früh seine Konsequenz daraus gezogen, auch wenn er einen geschmorten oder gebratenen Kaninchenrücken nicht verachtete. Kaninchenschlachten war eigentlich Arbeit für einen Profikiller. Den hätten Bodo und Piete dann gerne gehasst, denn Kaninchen zu töten konnte nicht gut sein. Das Hassen war aber nicht möglich, denn der Auftragskiller war Onkel Willi, der Schwager von Opa, der Mann seiner Schwester. Bodo und Piete dachten: Was für ein harter Mann!, und hielten sich lieber von ihm fern. Onkel Willi war in Wirklichkeit ein weichherziger, ängstlicher und cholerischer Mensch, dem schnell die Nerven durchgingen, wenn zum Beispiel die Vorabendserie „Die seltsamen Methoden des Franz Josef Wanninger“ im Fernsehen lief. Auf Geburtstagen der Großeltern stand um halb sieben gemeinsames Fernsehen für die Gäste auf dem Programm, denn das Fernsehen war damals noch neu. Nach 5 Minuten verließ er den Raum, weil der die Spannung nicht ertrug. Die Nerven gingen ihm durch, wenn jemand beim Skat das falsche As ausspielte. Dann konnte er zornig schreien, welches As das richtige gewesen wäre, welches Aas das falsche As gelegt habe, und dann hämmerte er seine restlichen Trümpfe auf den Küchentisch, dass die Gläser wackelten. Dieser Onkel Willi, diese widersprüchliche Figur, war der Kaninchentöter. Irgendwann tauchte er auf, scheinbar ohne Grund, weder die Oma noch der Opa hatten Geburtstag, und Bodo und Piete wussten sofort: Wir sollten verschwinden. Es ist wieder soweit. Sie warfen einen letzten Blick auf die Kaninchenställe und verschwanden ohne ein Wort zu sagen, rannten, als ginge es um ihr eigenes Leben, bis sie endlich außer Hörweite waren. An solchen Nachmittagen blieben sie besonders lange dem elterlichen Grundstück fern, spielten in Lükens Wiesen an einem kleinen Bach, bauten Wasserräder oder Staudämme. Kaninchen sehen ohne Fell nackt aus. Sie laden nicht zum Streicheln ein, nicht einmal zum Essen. Die meisten Menschen vergessen schnell den Zusammenhang zwischen Streicheltier, Tod, Nacktheit und Sonntagsbraten. Wenn das Fleisch auf dem Tisch duftete, entschied der Bauch. Piete aß, als habe es nie Kaninchen gegeben. Bodo probierte nur ein einziges Mal mit langen Zähnen, aber er konnte sein Gehirn nicht ausschalten, und das verbot ihm, dass das Fleisch auf seinem Teller gut schmeckte. Immerhin, sagte sich Bodo, als er einmal über alles nachdachte, haben sie alle ein schönes Leben gehabt; und gegessen werden ist etwas Nützliches, da hat das Leben vor dem Tod einen Sinn gehabt. Welcher Mensch kann das schon von sich sagen: Ich habe ein schönes Leben gehabt, ein sinnvolles Leben?