Vom Lande: Der Tod lebt mit (2)

Hühner hatten keine Namen. Ein Huhn war zum Eierlegen da. In dieser Zeit hatte es ein angenehmes Leben, saß des Nachts auf der Stange und schlief oder rannte im Hühnerstall draußen herum, um nach Körnern und Würmern zu suchen. Es gab einen Hühnerstall drinnen, da wo auf der Stange gesessen wurden, und einen draußen, da wo nach Nahrung gesucht und herumgelaufen wurde. Gelegt wurde drinnen, da gab es kleine Boxen aus Holz, in die sich die legewilligen Hennen verziehen konnten. Wenn sie ihr Eiergeschäft abgeschlossen hatten, gackerten sie laut: „Ich habe ein Ei gelegt, vielleicht auch zwei!“ Da Hühner nicht bis zwei zählen können, war das meistens gelogen. „Mach mal den Hühnerstall zu!“, sagte die Mutter abends zu Bodo, und das hieß, die Klappe herunterzulassen, die den Stall drinnen von dem draußen trennte. Damit war dem Marder oder Fuchs, die beide den Maschendraht spielend überwinden konnten, der Zutritt in den meist hahnlosen Harem verwehrt. (Nebenbei: Das gemeine Grillhähnchen sitzt nicht auf der Stange sondern steckt, bzw. ist auf diese geschoben.) Ab und zu wurde der Hühnerstall umgegraben, was in der Regel Bodo mit einem kleinen Damenspaten erledigen musste. Es war eine der ungeliebten Arbeiten für Bodo, denn er hasste es, in die Ausscheidungen der Hühner zu treten. Der Stall war voll von Hühnerkothaufen, die wie zusammengerollte dicke, graue Würmer aussahen. „Scheiß Hühnerkacke“, zischte Bodo vor sich hin, wenn er mit dem Spaten zustieß, um die plattgetrampelte und festgegackerte Erde zu wenden. Für die Hühner war das nicht ungefährlich, der Tod, wenn auch der zufällige, unbeabsichtigte, ungeplante, lauerte hier. Der Spaten stieß zu, und immer wieder schossen Hühner mit den Köpfen vor, um in oder unter der frisch gewendeten Scholle einen Wurm zu finden und ihn sofort aus seinem engen Loch zu zerren und zu verspeisen. Hatte eins einen Wurm erobert, dann rannte es mit der Beute im Schnabel im Stall herum, um sie vor den anderen Hühner zu retten. Meistens wurde der Wurm gemehrteilt und hinuntergeschlungen. Jeder so getötete Wurm konnte, vielleicht als Trost, gewiss sein, dass auch den Tätern ein ähnliches Schicksal drohte. Hühner starben nicht an Altersschwäche wie vielleicht der nie gefressene Wurm. Hühner starben durch das Beil. Sie wurden gezweiteilt, nicht halbiert, aber in zwei Teile gehackt. Das Schwein führte seinen Tod durch leichtes Übergewicht herbei, was gleichzusetzen ist mit Schlachtgewicht; Hühner taten das durch Verweigerung des täglichen Eis. Vielleicht konnten sie auch ganz einfach nicht mehr legen. Das Schlachten von Hühnern galt als zumutbar: Bodo und sein Cousin Piete aus dem Nachbarhaus durften zugucken. Niemand hatte ihnen das verboten, und niemand kümmerte sich darum, ob sie überhaupt zusahen. Das Schlachten übernahm meisten Opa Uns, der Uns hieß, weil er nebenan wohnte. Der Vater drückte sich lieber, was er aber nicht zugab, obwohl es jeder wusste. Das Opfer wurde aus dem Stall geholt, an den Beinen gefasst, mit dem Kopf nach unten gehalten. Immer wenn dieser Vorgang passierte, schlich sich das Gefühl ein, die Tiere hätte eine Ahnung, was ihnen gleich bevorstand. Der Opa brachte das Beil mit in den Stall, vielleicht in der Hoffung, die Hühner würden angesichts der kalten Waffe wie gelähmt stehen bleiben. Das Gegenteil war der Fall, die Hühner stoben auseinander, Federn flogen, lautes und hysterisches Gackern, erfolglose Flugversuche. War das Huhn erst in den Händen des Todes, wurde es ruhig. Bodo fand, dass Hühner dumm waren. Gerade jetzt, zwischen Stall und Hauklotz, gab es die Chance, dem ganzen zu entkommen, die letzte Möglichkeit, in die Freiheit zu fliegen. Das Huhn hielt still. Vielleicht war es schon betäubt, weil der Kopf nach unten hing. Es hatte sich seinem Schicksal gefügt. Der Opa ließ jetzt seinen linken Arm rotieren, mit dem Huhn, einem Propeller gleich, vielleicht um dem Huhn noch einmal vorzutäuschen, es würde gleich abheben. Es hob natürlich nicht ab, sondern wurde sofort zur Landung gebracht, Kopf und Hals schmiegten sich an den Hauklotz, das Eisen legte sich kurz auf den Hühnerhals, angeblich, um ihn zu strecken, dann ein kurzer Schlag mit der scharfen Seite, der Hühnerkopf lag am Boden, das Huhn immer noch in der Hand, nach unten hängend, diesmal ohne Kopf. Blut lief, das Huhn zuckte, das seien die Nerven, sagte Opa immer, alle Erwachsenen bestätigten das, dann endlich Ruhe. Der Rest war Frauenarbeit, rupfen, abflämmen und ausnehmen, kochen. Essen war dann Gemeinschaftssache. Den Kopf fraßen die Katze oder die Drosseln, die im Winter Schweinegekröse bevorzugten, das nach dem Schlachten im Cox-Orange-Baum aufgehängt wurde. Die Familie aß das Frikassee und die Suppe; für alles andere waren Hühner, wenn sie ein Jahr Eier gelegt hatten, zu zäh.