Günter Krass: Haarschnitt


Du hast die Haare schön!, singt der angetrunkene Kegelverein, wenn der blondgelockte Zugbegleiter durchs Abteil huscht, vielleicht einen Moment bei den Neuzugängen verharrt, die Karten betrachtet, einen Stempel aufdrückt und in die Erste Klasse verschwindet.
Du hast die Haare schön! Das gab es doch früher nicht, das sagte man nicht zu einem Jungen. Das war unmännlich. Es war zum Heulen.
Du hast die Haare zu lang, die stehen ja schon auf den Ohren, und auf dem Kragen setzen sie auch schon auf. Du gehst zum Frisör!
Lange Haare waren modern, das wusste jeder. Es hatte sich nur noch nicht bis ins Elternhaus rumgesprochen. Traurig. Zum Heulen eigentlich. Kleemanns Atti schnitt kurz. Er hatte für Jungen einen einzigen Schnitt, und der war kurz. Der stammte noch aus den 30er Jahren. Facon-Schnitt. Die Haare an den Seiten mussten unkämmbar sein. Die mussten unsichtbar sein. Schneidig, drahtig, flott. Wenn man oben alles wegschnitt, war es amerikanisch. Auch flott, sagten die Damen.
Wenn Attis Laden leer war, wurden die Haare immer kürzer, als wenn Männer auf den Bänken saßen und warteten. Atti erzählte und erzählte. Er schnitt im Schlaf.
Seitdem schreibe ich Frisör mit ö.
Heute ist alles anders. Da gibt es Menschen, die freiwillig Glatze tragen. Da gibt es Gelockte und Gekämmte, Ungekämmte und Gebürstete. Schlecht Gebürstete und Frisierte.
Niemals hätte ich so viel Alkohol trinken können, um die Haare eines Zugbegleiters zu kommentieren.
Aber ich bin ja auch in keinem Kegelverein.