Weisheit des Alltags: Zurückbleibend oder zurückgeblieben

Liebe Leser!
Neulich eine Einladung:
Liebe Zurückbleibende!
Frühstück um halb elf.
Wir freuen uns auf euch.

So angesprochen, folgerte ich sofort, dass es sich um Weggehende handeln musste, die mich und andere hinterlassen wollten, nicht ohne sich mit einem Frühstück zu verabschieden. Zu einer Zeit, wenn andere bereits das Mittagessen riechen.
Also Senioren.
Weggehen und sich auf die freuen, die man zurücklässt - ist das nicht ein Widerspruch, den man nur im Bleiben auflösen kann? So lange, bis die Zurückbleibenden zu Zurückgebliebenen geworden sind, denn die Zeit arbeitet immer gegen die, die dableiben.
Vielleicht war die Anrede "Liebe Zurückbleibende" auch ein Euphemismus, der natürlich den Gedankensprung zu "Zurückgebliebenen" initiieren sollte, an die beschränkte Restmenschheit, die sich nicht wegbewegt, sondern bleibt, wo sie ist.
Davon musste ich Abschied nehmen, denn mit einem Frühstück um halb elf verband ich sofort eine Seniorengruppe, die nicht der Bettflucht anheim gefallen ist, sondern eher zur Kategorie "Betthocker" gehören musste, die es genießt, so spät am Morgen noch die Brötchenkrümel aus Bluse und Weste zu klopfen, damit sie aufs Bettlaken bröseln.
Meine dunkle Seite flüsterte mir zu, dass dies ein Affront ersten Grades sei, nämlich der Hinweis darauf, dass die Dableibenden zur Arbeit gezwungen wären und sich nicht den Luxus der späten Morgenspeise leisten könnten, wohingegen die Gehenden gerade durch das Nichtarbeiten und das Gedenken an die jetzt in diesem Moment Arbeitenden den Hochgenuss dieser speziellen Nahrungsaufnahme erführen.
Damit würde auch der Satz "Wir freuen uns auf euch" zu Ironie, vielleicht sogar zum Sarkasmus.
Demütigt es denn nicht die Eingeladenen, die sich als Instrumente der Genusssteigerung zu empfinden, die hundertfach den Satz "Wir können jetzt immer um diese Uhrzeit frühstücken!"
verstärken?
Dann aber dachte ich positiv:
Meine Leidensgenossen und ich dürfen bleiben, wir dürfen arbeiten, wir dürfen - was dem Tag auch Struktur gibt - früh aufstehen, und wir können die Freizeit, den Urlaub, die verlängerten Wochenenden auskosten, weil es für uns den Kontrast gibt: Das harte Arbeiten, das Erschöpftsein, die Sehnsucht nach einer Pause.
Sieh das Positive im Negativen, sagt der weise Mann. Und was immer er damt meint, er hat Recht.