Günter Krass: Vorbeischwimmende Frau (2)

Neulich schwamm eine Frau im Kleid an mir vorbei und in der Hand hielt sie eine Perlenkette.
Sie hatte die Augen geschlossen und wirkte irgendwie verträumt.
Guten Tag, Frau im Kleid mit einer Perlenkette in der Hand, was schwimmen sie denn so vorbei?, fragte ich die Frau.
Die aber verharrte in ihrer Haltung und tat, als habe sie nichts gehört.
Tschuldigung, wenn ich Sie belästigt haben sollte, ergänzte ich, aber die Frau reagierte immer noch nicht.
Sture Person, dachte ich, wenn auch nicht unattraktiv.
Ich überlegte, ob man einer vorbeischwimmenden Frau, die ein Kleid trug und eine Perlenkette in der Hand hielt, überhaupt hätte anbieten können, gemeinsam zum Italiener zu gehen.
Ich war ein gutes Stück weiter geschwommen und die Frau außer Hörweite.
War es nicht auch diskriminierend "zum Italiener" zu sagen, also wenigstens für den Italiener, also den, der ein Restaurant betreibt? Denn der repräsentiert ja nicht die ganze Nation, nicht "den Italiener"; er ist ja ausgewandert und in Deutschland geblieben, um hier gutes Geld mit dünnbelegten Gemüsekuchen zu verdienen.
Als ich am Abend meinen Zielhafen erreicht hatte, war die vorbeischwimmende Frau, die ein Kleid trug und eine Perlenkette in der Hand hielt, bereits aus meinem Gedächtnis verschwunden. Komisch, dass ich mich heute trotzdem an sie erinnere.