Muttis Buckel


Jochen war ein Schnüffler. Schon früh hatte er gelernt: Der Geruch von Mutti war Sicherheit, besonders der Geruch ihres Buckels. Immer wenn er Angst hatte, wenn die kleine Welt um ihn  herum explodieren wollte, dann schnupperte er an Muttis Buckel und alles war in Ordnung. 
Hässliche Dinge hatten die Kinder in der Schule über Mutti gesagt: Dass sie einen Rucksack unter dem Kleid trüge und dass sie vier Brüste habe, zwei vorne und zwei hinten.
Jochen tat das weh, besonders für Mutti, die ja nichts für den ausgeprägten Rücken konnte und sich nicht wehrte, weil sie ja bei den Demütigungen nicht dabei war. Wenn Mutti Jochen von der Schule abholte, dann sagten die Kinder nichts, blickten verstohlen auf Muttis Rücken, oder kicherten leise ins Fäustchen. Wenn man sie fragte, warum sie lachten, sagte sie: "Nur so!", oder "Keine Ahnung, ich lach halt."
Wenn Jochen traurig war, dass die Kinder über Mutti lachten, stöberte er mit seiner Nase in den Sofakissen, um Muttis Witterung aufzunehmen und schließlich an ihrer Bluse zu landen und schließlich an ihrem Rücken, um den beruhigen Buckelduft einzuatmen. Mutti lachte dann immer und sagte: Na, jetzt übertreib mal nicht; dass Buckel Kinder zum Lachen bringen, das weiß ich, aber dass sie Kinder glücklich machen, das ist doch ein Ding der Unmöglichkeit.
Irgendwann kam es zum Bruch. Jochen erzählte von Buckelpisten, die man mit Skiern runterfahren könnte, von Buckelhauben - er meinte Pickelhauben - von Buckelschilden, von Buckelfliegen, Buckelrindern und der österreichischen Buckelkraxe. Die Mutti zog sich immer mehr zurück von Jochen, der fast manisch nach zusammengesetzten Hauptwörtern mit Buckel suchte.
Schließlich schenkte er ihr ein Buch über Buckelwale und behauptete, dass diese richtige Lieder sängen, deren Strophen drei Stunden lang seien.
Du Missgeburt, schleuderte sie Jochen ins Gesicht, man macht keine Witze über Bucklige. Das gilt seit Aktion Sorgenkind.
Sorgenrind!, rief Jochen und dachte natürlich an Sorgenbuckelrind.
Die Mutter schleppte Jochen zum Arzt und der stellte  Pubertät im fortgeschrittenen Stadium fest. Da könne man nichts machen, das wüchse sich mit der Zeit heraus.
Herauswachsen. Das Verb blieb in Muttis Ohr.
So war es damals auch bei ihr gewesen. Alles wuchs heraus. Auch das Ding auf dem Rücken. Jochens Tage waren wohl gezählt.