Der Ausländer auf dem Dorf



Der Ausländer ist auf dem Lande kein Problem. Es gibt ihn eigentlich nicht, denn jeder, der nicht im Dorfe geboren ist und einen lückenlosen Stammbaum von Hiergeborenen vorweisen kann, ist ein Zugereister. Der Schmalsener ist nur ein Schmalsener, wenn er weiß, woher er stammt. Die eigene Scholle muss quasi Generation um Generation hervorgebracht haben; vielleicht hat sich der eine oder andere einmal eine Frau aus dem Nachbardorf genommen, um frisches Blut in die Familie zu bringen, aber insgesamt bleibt der Schmalsener unter sich. Da kann auch eine von oben her diktierte Gebietsreform nichts bewirken. Die künstlich entstandenen Gemeinden haben gar nichts mit den gewachsenen gemeinsam. Wenn Schmalsen damals der Gemeinde Hüllhausen zugeschlagen worden ist, so bleibt es im Inneren, im Blute, in der innerörtlichen Verwandtschaft doch Schmalsensisch. Da achtet jeder fein auf die Einhaltung der ungeschriebenen Gesetze und die unsichtbaren, aber seit Jahrhunderten gezogenen Grenzen. Es gibt nur den Schmalsener und den Nichtschmalsener. Der Zugereiste glaubt sich eine Eintrittskarte in die Gemeinschaft zu erschwindeln, indem er einem Verein beitritt oder der stärksten Partei im Dorfe. Das macht ihn aber eher verdächtigt, denn wenn der Zugereiste schon durch seinen Neubau den kostbaren Mutterboden versiegelt und damit einer Umweltkatastrophe Vorschub leistet, dann soll er doch bescheiden auf seiner spärlich begrünten Terrasse sitzen bleiben und hoffen, dass sich der Alteingesessene an sein Gesicht gewöhnt. Wenn Letzterer dann eines Tages den Gruß an den Neubürger richtet, erwartet er demütiges Nicken, aber auf keinen Fall überschwängliches Zurufen eines Guten Tages oder aktive Teilnahme am Dorfleben. Der Zugereiste mit Eigentum wird toleriert. Der Chinese, der ein Restaurant betreibt, kommt zwar in den Verdacht der Geldwäscherei, genau wie der Italiener mit dem Pizzabringedienst in den der Steuerhinterziehung, gilt aber zusammen mit jenem Südländer, nicht als Ausländer oder Zugereister, weil er ja doch eines Tages wieder in seine Heimat zurückkehren wird, da seine Machenschaften ans Tageslicht gekommen sind. Es gibt ihn eigentlich gar nicht, oder nur temporär. Er ist eine vorübergehende Erscheinung, an der niemand sich reiben muss.
Neger gibt es so gut wie gar nicht auf dem Lande. Allein die Tatsache, dass Neger nicht Neger sondern Farbige genannt werden, bestätigt dem Landmann, dass hier ein gestörtes Verhältnis zum Nichteingesessenen vorliegt. Dabei gebietet ihm die Christenpflicht, den Farbigen liebend in sein Gebet zu schließen; vielleicht wäre der oder die ja auf dem schwarzen Kontinent verhungert. Die Ehe einer, natürlich protestantischen Afrikanerin mit einem Bäckergesellen wiegt da doppelt schwer in ihrer Mitmenschlich- und Barmherzigkeit. Kinder aus solchen Verbindungen sind besonders süß, solange sie nicht erwachsen sind und Ansprüche wie jeder andere stellen. Ihre Tragik ist, dass sie als doppelt, vielleicht sogar dreifach zugereist gelten, weil Afrika sehr weit weg ist und der Bäckerbursche aus Altwede stammt und nicht aus Schmalsen.
Wehmütig erinnern sich die Menschen vom Lande an die Erzählungen der Eltern und Großeltern und bleiben hilflos und handlungsunfähig: Sie müssen der stetigen und unaufhaltsamen Durchdringung ihrer Heimat durch Zugereiste tatenlos zuschauen, denn die Rechtsprechung gewährt, unabhängig jeder Tradition, der Freizügigkeit Schutz. Ein Scheck für ein verkauftes Baugrundstück spendet hin und wieder den notwendigen Trost.