Günter Krass - Mama

Muttertag. Fred fragte sich, ob er dieses Jahr wieder die obligatorische und bewährte Packung mit 4711-Seife und Zerstäuber schenken sollte, oder die Tosca-Variante? Ein Alpenveilchen wäre auch möglich, aber Fred hasste Alpenveilchen noch mehr als Usambara-Veilchen. Man sollte nicht schenken, was man selbst nicht gern geschenkt bekäme. Aber der Mutter die neue Rolling-Stones-Single zu schenken, sah zu sehr nach Strategie aus. Wenn du sie nicht brauchen kannst, Mutter, könnte ich sie ja nehmen, übte Fred seinen Satz. Die 5 Mark wären gut investiert und die Mutter hatte sowieso keinen Plattenspieler, weshalb sie wohl die Scheibe zurückgeben würde.
Ein holländischer Junge quietschte sich durch Radio und Fernsehen mit dem Lied Mama, das jedes Mutterherz öffnete oder zum Schmelzen brachte. Heintje. Der Mutterglücklichmacher aus dem Nachbarland.
Fred entschied, dieses Jahr in Musik zu investieren. Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen. Hier formulierte der holländische Hochtöner, was Fred mittlerweile schwer fiel zu artikulieren. Die Mutter stufte Fred mittlerweile als schwierig ein, weil er sein Zimmer nur noch sporadisch aufräumte, heimlich Pardon las und keinen Knick mehr ins Sofakissen machte, was wohl irgendwie gemütlicher und ordentlicher aussehen sollte.
Fred strebte an, die Haare -möglichst unentdeckt- länger werden zu lassen, weil es seinem eigenen Geschmack entsprach,  der zufällig auch mit dem britischer Beatgruppen übereinstimmte, .
Was sollen die Leute denken, widersprach die Mutter, wenn Fred einen Selbstgestaltungsvorschlag unterbreitete, der ihr Missfallen fand.
Heintje - das war ein herzlicher Wunsch zum Muttertag, und gleichzeitig auch eine Waffe. Die Mutter hatte keinen Plattenspieler und Heintje musste schweigen. In dieses Schweigen würde Fred seine erste Stones-Single Get off of my cloud auflegen, die schon einigermaßen abgenudelt war. Wat ess dat denn, hatte die Großmutter gefragt, als er Weihnachten 65 die Platte nach dem Kufsteinlied auf seinem neuen tragbaren Monarch-Plattenspieler von Neckermann aufgelegt hatte.
Vielleicht war Heintje rausgeschmissenes Geld, aber es war ein letzter Versöhnungsversuch mit der Erziehungsberechtigten, um endlich das zu machen, was Fred immer drängender machen wollte.
Du musst doch nicht um deinen Jungen weinen, Mutter, summte Fred vor sich hin, und freute sich auf langes Haar und Sofakissen ohne Knick, auf ein unaufgeräumtes Zimmer und Renate, die bald Angela heißen würde, weil es mit Alma nur kurz geklappt haben würde.