Überall deutscher Schlager - Tonnes Tagebuch

Liebes Tagebuch!
Neulich im Blumenladen wollte ich Stiefmütterchen kaufen und stand in einer Schlange, die aus drei Personen bestand. Die Frau am Schlangenkopf ließ sich einen Blumenstrauß binden und ich dachte, dass das immer seltener wird und ob die fertigen Sträuße an der Supermarktkasse zum Binden nach Marokko oder Vietnam geschickt werden, um sie dort von geschickten Kinderhänden binden zu lassen, und dass man doch das Warten gern in Kauf nehmen sollte, weil dann weniger Kinderarbeit auf der Welt nötig wäre. Weil ich lange warten musste, denn das Binden wurde sehr sorgfältig vorgenommen, dachte ich daran, dass Stiefmütterchen nicht die Blumen der Wahl sind, wenn man seine Liebste beschenken möchte, nicht mal zum Muttertag wären sie gut, und dann fiel mir erst ein Schlager mit Blumen ein: Tulpen aus Amsterdam und ich dachte, dass die Holländer, die sich in den Siebzigern in dunklen Hauseingängen in Einkaufsstraßen mit Billigblumen eingenistet hatten, die deutsche Blume doch nicht verdrängt haben, das Stiefmütterchen ist klein, aber deutsch, die Tulpe holländisch. Sie wächst aufdringlich in der Vase nach und man muss sie ständig beschneiden, weil sie sich immer über die anderen Blumen eines gemischten Straußes hinwegheben will. Rote Rosen summte ich plötzlich und wusste, dass das die Blumen sind, die die Liebe repräsentieren und die Ergebenheit des Mannes. Von Rosen aus Amsterdam hat niemand etwas gehört, Rosen gehören nicht zu den Billigblumen, und wenn, dann kommen sie aus Afrika und sind fair gehandelt, das heißt, die Landarbeiter tragen Gesichtsmasken, wenn sie ein Pflanzenschutzmittel verspritzen.
Die Frau vor mir schnaubte, weil es so lange dauert und stellte irgendwann ihre Topfblume demonstrativ auf denTresen und stürmte weg. Gut, dachte ich, dann bin ich einen Platz vorgerückt, das ist eine gute Zeitersparnis. Die Floristin - so werden Blumenverkäuferinnen, die Sträuße binden können, genannt- hatte eine rote Nase. Vielleicht ist sie erkältet, dachte ich, oder sie trinkt zu viel Rotwein. Die kleine Kneipe an unserer Ecke drängte sich auf, ein Schlager, von Peter Alexander gesungen, dem saubersten Schlagersänger überhaupt, der Ikone der deutschsprachigen Unterhaltungsmusik, der immer so ein gutmütiges Weinen im Gesicht hatte, als wäre er traurig, dass er seine Musik dem Publikum präsentieren musste. Ich überlegte noch, ob die Farbe der Nase von der Farbe des Getränks abhängt, das man im Übermaß zu sich nimmt?
Kann ich bei dem Herrn schon mal abziehen?, fragte die Rotnasige die Kundin, die sich doch sehr zeitaufwändig einen Strauß binden ließ. Vielleicht hatte  ich auch irgendwie traurig gekuckt, als ich an Peter Alexander dachte und die kleine Kneipe.
Sie hatten die Hornveilchen?, fragte die Floristin. Äh, ja, murmelte ich, zehn Stück, und erwähnte nicht das Wort Stiefmütterchen, um nicht unnötig Wissenslücken im Bereich der Flora preiszugeben.
Nachdem sie sich erst verrechnet hatte, nannte sie mir den Preis: Fünf Euro fünfundneunzig.
Wie viel hatte ich doch nachdenken können für so wenig Geld. Vielleicht musste ich aber noch den Preis für den langzeitgebundenen Blumenstrauß dazurechnen, aber den zahlte ja die Dame, die immer noch vor mir dran war. Wo gab es denn überhaupt noch kleine Kneipen? Wo gab es noch Ecken mit kleinen Kneipen? Nach soviel Denken wäre ein kleines Bier und eine Schweigeviertelstunde an einer Theke wünschenswert. Da wo das Leben noch lebenswert ist. Was das bedeutet, darüber will ich lieber morgen nachdenken.