Neulich beim Discounter

Konzentriert schiebe ich meinen Einkaufswagen durch die Gänge des wohnungsnahen Discounters. Meine Körperhaltung ist leicht geduckt; hoffentlich erkennt mich keiner dieser Pseudosozialbildungsbürger, die lieber Tante Emma hinter der Theke hätten, gegen Aufpreis versteht sich, und die sich weigern, beim Discounter einzukaufen, weil die Leute unter viel zu schlechten Bedingungen arbeiten müssen. Damit ist ihr soziales Gewissen beruhigt; dann muss man am ersten Mai nicht zur Gewerkschaftkundgebung. Früher gab es Ablassbriefe, heute kauft man sich im mittelständischen Supermarkt mit überhöhten Preisen frei. Wie die Mitarbeiter da behandelt werden, weiß man nicht. Tante Emma ist tot. Das kommt erschwerend dazu. Während ich so vor mich hin denke und eigentlich nach Kokosraspeln suche (ich habe bereits 7 Minuten über den Unterschied zwischen Kokosraspeln und Kokosflocken nachgedacht), immer noch in geduckter Haltung, immer noch mit schlechtem Gewissen, immer noch in der Angst, entdeckt zu werden, steht mir der Wagen eines etwa 25jährigen Mannes im Weg, der nach 110 kg Nettogwicht aussieht, gekleidet in modernen Blouson, Käppi, Jeans und Turnschuhe. Der 110-Kilo-Mann zieht seinen Wagen sofort weg und murmelt etwas, das ich als Bitteschön! oder Keinproblem! oder ähnlich Entschuldigendes höre. Ich wundere mich über die prompte Reaktion und die Worte; das hätte ich nicht erwartet, dass ein junger Mensch, der mit seinem Wagen im Weg steht, nicht nur reagiert, sondern auch noch mit mir spricht. Ich bin erfreut und konzentriere mich auf Kokosraspel oder -flocken. Im Weiterschieben höre ich, dass der 110-Kilo-Mann immer noch murmelt, lacht, säuselt, brabbelt, wispert, flüstert, dass er scheinbar weiterredet. Ich habe ihm doch eben mein Dankeschön zugeworfen, wieso spricht der immer noch? Er spricht mit sich selbst, nein, jetzt mit einer Dose Erbsen, dann mit einer Hautcreme und einer Tube Zahnpasta. Der Mann hat kein Handy in der Hand! Er nickt mit dem Kopf, als hätten die Dosen und Tuben ihm geantwortet. Ich bin besorgt, ich richte mich auf, Schluss mit dem schlechten Gewissen, Schluss mit Ducken, hier ist Hilfe gefordert! Ich drehe den Wagen, der noch immer ohne Kokosflocken ist, fahre zurück, in die Nähe des Schwergewichts, beobachte ihn, um eine anschließende Diagnose zu stellen. Der junge Mann redet weiter, blickt gedankenverloren in die Regale, seine Mimik verändert sich, er lacht, schaut ernst, nickt, schüttelt den Kopf, runzelt die Stirn. Das ist der Beginn einer ernsthaften psychischen Erkrankung, das könnte Anlass für eine Zwangseinweisung sein, schießt es mir durch den Kopf, was ist da zu tun? Den Amtsarzt bemühen, um einen richterlichen Beschluss zu erwirken; der Mann kann sich vielleicht zu einer Gefahr für sich und die ganze Kundschaft im Discounter entwickeln. Amoklauf! Ich bin wie erstarrt.
Während ich keinen Finger rühren kann, dreht sich der Plapperer um; mein Blick fällt auf einen zu großgeratenen Minikopfhörer mit einem kleinen Stiel, der zum Kinn führt, hängen. In meinem Hirn rattert es; was kann das sein. Irgendwo im Kopfarchiv treffe ich auf Headset und Mobiltelefon, durch die Kreuzung beider Begriffe, könnte das Objekt entstanden sein. Der Mann telefoniert und trägt sein Handy im Ohr! Er hat beide Hände frei zum Einkaufen. Und - viel schlimmer - er hat gar nicht mit mir gesprochen, sondern mit seiner Mutter, für die er einkaufen geht, damit sie ihm einen Geburtagskuchen backen kann.
Als ich wieder zu mir komme, bin ich tief enttäuscht von der heutigen jungen Generation und beschließe, nicht mehr im Discounter zu kaufen, aus Protest gegen die Gedankenlosigkeit und gegen die Entmenschlichung der Kommunikation und des Menschseins überhaupt.