Stephan I. Meyer - Bis(s) zum Morgenkauen

Meine Mutter fuhr mich heruntergelassenen Scheiben zum Flughafen. Ich dachte, während der Wagen vor sich hin schaukelte, über diese Metapher nach: Mit heruntergelassenen Scheiben. Wenn meine Mutter bildhafte Ausdrücke benutzte, wusste ich, dass sie wieder mal schlecht drauf war, oder supergut, also mal wieder depressiv oder manisch war. Mit heruntergelassenen Scheiben ließ sich eigentlich nicht fahren, was konnte sie meinen, Bremsscheiben? Bremsscheiben fuhren ja auch nicht, sondern bremsten eher.  Hatten wir denn Scheibenbremsen in unserem neuen SUV? Scheiben jedenfalls konnten nicht von sich aus fahren, dazu brauchten sie immer eine Achse. Irgendwelche Antiken hatten ja auch das Rad schon erfunden, aber konnten damit nicht fahren, wahrscheinlich schossen sie auf die Scheiben, mit Pfeil und Bogen oder mit Tontauben. Ich dachte an meine eigene Fahrradprüfung in Klasse 5, da hatte ich doch glatt ein paar Pylonen, die ich damals noch für einäugige Riesen gehalten hatte, umgerissen. Die Nacht vorher hatte ich denkbar schlecht geschlafen, denn mit einem  24"-Fahrrad zwischen einäugigen Monstern herumzukurven, das machte mir Angst. Gottseidank waren es dann nur orange-weiße Plastikhütchen und ich atmete auf. Den Führerschein habe ich heute noch im Portemonnaie, falls ich ihn mal brauche. Während ich über das Herunterlassen von Scheiben nachdachte, kaute ich auf ein paar Frühstücksresten herum, so wie man gelangweilt ein Kaugummi dental durchknetet, das schon völlig geschmacklos geworden ist. Und ich wusste plötzlich ganz genau, wenn dies ein Roman wäre, in dem ich mitspielte und meine Mutter mit heruntergelassenen Scheiben, dann wäre hier der Höhepunkt erreicht. Falls der Roman "Bis(s) zum Morgenkauen" hieße, denn das war jetzt reines Morgenkauen, gelangweilt, genervt, leicht flugangstbeträufelt und fade. Das hatte keinen Biss. Es schmeckte wie durchgekaut, wie ausgelutscht, wie abgeleckt, oder noch schlimmer: Wie angeleckt. Das machte kleine Kinder immer, wenn sie etwas für sich haben wollten. Tommi saß damals mit angeleckten Ohren in der Spielecke. Britta hatte mit ihrer Zunge über seine Ohren geschlabbert und beanspruchte Tommi jetzt nur für sich. Angeblich habe ihn jeder haben wollen, damals. Ich wollte ihn auf keinen Fall mehr haben, denn angeleckte Ohren stinken erbärmlich nach verwesender Kinderspucke. Beim Nachempfinden dieses Geruchs und gleichzeitigem und gelangweiltem Herumkauen auf Frühstückcerialien, also Haferflocken und anderem Brösel, hatte ich mir innen in die Backe gebissen. Ich schmeckte den metallenen Geschmack von Blut. Jetzt hatte ich meinen Biss. Den Biss zum Morgenkauen. Passend zum Morgenkauen. Ich versuchte, das Seitenfenster des SUV herunterzulassen, aber es war schon unten. Warum das? Es gab doch eine Klimaanlage. Ich spuckte das Gemisch aus Blut, Spucke und Frühstücksresten durch die Fensteröffnung. Die Hälfte landete auf meinem Kragen, durch den Fahrtwind wieder hereingedrückt, die andere an der Verkleidung der Tür, weil ich nicht genug Druck hatte aufbauen können. Da hatte ich meinen Biss. Endlich wusste ich auch, was die Metapher "mit heruntergelassenen Scheiben" bedeutete. Es war gar keine Metapher. Das konnte ja noch ein interessanter Flug werden. Mutter ließ die Scheiben hochfahren und schaute mich gereizt von der Seite an. Was ist mit dir los, schien sie zu fragen. Ich guckte zurück, also ob ich auch etwas sagte. Tat ich in Wirklichkeit aber gar nicht. Das Blut hatte aufgehört zu rinnen, jetzt tat es weh. Ein Tag, um nicht zu fliegen.