Günter Krass - Ballon

Da weinte der Mann bitterlich, denn der Luftballon war ihm davongeflogen. Eigentlich war es nicht der Verlustschmerz, der ihm die Tränen in die Augen trieb, sondern vielmehr wurde ein Gefühl abgerufen, das aus seiner Kindheit stammte.
Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel und Nichten und Neffen, sie alle hatte sich damals einen Spaß daraus gemacht und gerufen: Der Paul hat einen fliegen lassen. Dann hatten sie herzzerreißend gelacht.
Das erste Mal war das ein zufälliges Ereignis gewesen, er hatte den Ballon losgelassen oder er war ihm durch die etwas schmierigen Finger geglitten, und Onkel Ronkel, so nannten sie Rolf, hatte den Witz vom Fliegenlassen gemacht, der ja in seiner bildhaften Bedeutung einen übelriechenden Furz meint, bzw. das Ausstoßen desselben.
Dass Menschen über Fürze lachen oder über das Imitieren dieses Geräusches oder über eine Geschichte, in der ein Furz vorkommt, kann man immer wieder beobachten.
Bald darauf machten sich die Verwandten allesamt einen immer wiederkehrenden Scherz daraus, ihm einen Luftballon zu schenken und ihn, den Paul, dazu zu bringen, diesen loszulassen. Wenn er nicht schnell genug funktionierte, lenkte man ihn ab, oder warf ihm etwas Süßes zu, das er mit beiden Händen auffangen wollte. Dabei wurde er des Ballons verlustig. Dieser schwebte dann empor, nutzlos, ein Instrument eines monotonen Scherzes, über den sich alle amüsierten, nur Paul nicht.
Hätte es das Wort Mobbing gegeben, hätte man eine Unterkategorie bilden müssen: Verwandtenmobbing. Die Verwandten aber sagten nur, wenn er in Tränen ausbrach: Der soll sich nicht so anstellen, das war doch nur ein Scherz, das haben die früher mit uns auch ausgemacht, und - hat es was geschadet? Onkel Ronkel sagte darüber hinaus: Wer heult, kriegt noch etxtra was an den Ballon. Der aber war schon in den Wolken und schaukelte traurig hin und her, so, als verstünde er Pauls Schmerz, immer der Mittelpunkt eines üblen Scherzes zu sein.
Nun war sein Ballon wieder weg, und Paul, jetzt ein Mann, ließ die Tränen trotzdem laufen, weil seine Kindheit sich einen Weg nach draußen bahnte.
Paul würde sich einen neuen kaufen, oder besser: Er würde auf dem Jahrmarkt Luftballons verkaufen, und wenn ihm einer abging, bzw. wenn er einen hatte fliegen lassen, hatte er immer einen, nein hundert neue Ballons in Reserve. Ja, das würde er machen.
Paul winkte dem davongeflogenen Ballon zu und lächelt, weil er Hoffnung auf eine gute Zukunft geschöpft hatte. Fliegen und fliegen lassen, kam es ihm in den Sinn, und das kannte er igrendwoher.