G.Fried: Geschichten vom jungen Bodo - Der Zahn


Bodo sitzt am Wohnzimmertisch. Er hält den Mund leicht geöffnet, aus dem ein schwarzer Zwirnsfaden herausguckt und schlaff bis zur Küchentür hängt.
Der Zwirnsfaden ist an der Klinke festgeknotet. Das andere Ende des Fadens ist um einen Zahn in Bodos Mund gewickelt. Auf der linken Seite ist es der dritte von der Mitte aus gezählt.
Es ist ein Milchzahn, der schon seit Tagen locker sitzt.
Bodo fasst mit dem Finger an den Zahn, um zu überprüfen, ob er sich nicht schon gelöst hat oder vielleicht ganz einfach, ohne einen winzigen Schmerz, am Finger kleben bleibt.
Der Zahn hat weder das eine getan, noch tut er das andere.
„Du musst den Zahn mit dem Faden an eine Tür binden“, hat Onkel Fritz ihm geraten. „Und dann“, hat er weiter geraten, „schlägst du die Tür zu und zack, ist der Zahn draußen. Da merkst du überhaupt nichts.“
Onkel Fritz wollte ihn beruhigen.
Bodo hat, wie nötig, den Zahn mit der Türklinke verbunden.
Onkel Fritz ist manchmal etwas barsch im Ton, aber er meint es gut und ist vertrauenswürdig.

„Da merkst du gar nichts“, erinnert sich Bodo an seine Worte. Wieso gab es eigentlich Zahnärzte, wenn jeder seine Zähne schmerzfrei mit der Türklinke ziehen konnte?
Bodo zweifelt an Onkel Fritzens Worten. Oder hat der gemeint, dass man sich erst die Tür vor den Kopf schlagen soll, um dann ohnmächtig zu Boden zu stürzen und im Fallen – darum muss der Faden kurz genug sein - den Zahn zu verlieren?

Bodo ist schon einmal mit dem Kopf vor eine Tür gelaufen. Das hat weh getan. Die Beule hat die Mutter mit einem kalten Messer aus dem Essbesteck gekühlt, oder eigentlich wieder in den Kopf gedrückt.
Schmerzfrei? Weit gefehlt!
Bodo fasst an den Zahn schiebt ihn hin und her. Zahnärzte nehmen einen Haken, fassen unter den Zahn und ziehen dran, und Kinder, die vor Ehrfurcht vor dem weißen Kittel und den spitzen Gegenständen ganz starr sind, sagen hier kein Wort. Aber schmerzfrei ist das nicht.
Warum soll ausgerechnet die schwere Wohnzimmertür zur Küche den Zahn schmerzfrei entfernen?
Der Zahn sitzt locker, das fühlt Bodo ganz deutlich. Nur – wer soll die Tür zuschlagen, wer wollte die Verantwortung übernehmen, dass wirklich kein Schmerz zu spüren ist? Onkel Fritz müsste das eigentlich, aber der ist nicht da.
„Du musst die Tür einfach zuschlagen“, hat er gesagt.
„Du“, denkt Bodo und schluckt, „das bin ich“.
Oder wäre es besser, sich auf die andere Seite der Tür zu setzen, die Tür zu schließen und zu warten, dass zufällig der Vater oder die Mutter die Tür aufreißen und der Zahn in einem heraus wäre. Schmerzfrei.
Bodos Eltern reißen keine Türen auf. Sie machen das immer in aller Ruhe, und was das für den Zahn bedeuten kann, will sich Bodo nicht vorstellen.
Außerdem: die Mutter ist im Keller, der Vater in der Werkstatt. Beide müssten erst einmal durch die Küche ins Wohnzimmer gehen, um dann blitzschnell türaufreißend wieder herein zu kommen.
„Das kann dauern“, denkt Bodo. „Du musst es selber tun“, denkt er. „Niemand kann mir helfen“.
Nervös schiebt er an seinem Zahn. Er muss sich entscheiden, wann er die Tür zuschlagen will. Er kann nicht den ganzen Nachmittag hier sitzen.
„Ich zähle bis drei“, nimmt er sich vor.
„Halt, bis drei ist zu kurz“.
Bodo überprüft noch einmal die Fadenlänge – der Faden darf , wie gesagt, nicht zu lang sein – und den Sitz des Knotens.
Nur die vorschriftsmäßige Ausführung des Vorhabens garantiert Schmerzfreiheit.
„Vielleicht warte ich eine Minute“, sagt sich Bodo und blickt zur Wohnzimmeruhr, die träge tickt.
Die Wohnzimmeruhr hat keinen Sekundenzeiger. „Das ist schlecht“, denkt Bodo, den Zeigefinger immer noch im Mund, „es muss schon ganz genau eine Minute sein. Ohne Sekundenzeiger kann ich nicht wissen, wann die Zeit um ist“.
Bodo überlegt. 5 Minuten sind zwar länger, aber auch nicht genauer abzulesen.
Bodo spürt einen süßlichen Geschmack im Mund.
„Woher einen Sekundenzeiger nehmen?“, überlegt er, „Oder eine Uhr mit Sekundenzeiger?“
Ihm fällt ein, dass der Wecker im Elternschlafzimmer einen kleinen Sekundenzeiger har, der auf einem eigenen, kleinen Zahlenkreis mit 60 Strichen läuft.
Aber um den zu holen, müsste er den Faden vom Zahn lösen.
Das Süßliche im Mund ist noch da. Bodos Zunge rührt mit etwas Hartem im Mund herum.
„Der Schlafzimmerwecker. Gut“, entschließt er sich.
Mit Daumen und Zeigefinger fasst er das Harte im Mund, mit dem die Zunge gespielt hat.
„Der Zahn!“ Eine heiße Welle schießt in Bodos Körper hoch, sein Herz klopft schneller.
„Der Zahn!“ jubelt es in ihm. „Da ist er ja!“ Dann zieht er den Zwirnsfaden mit dem Koten am Ende durch die Lippen.
„Schmerzfrei“, denkt Bodo. „Das ist schmerzfrei. Von wegen Tür und Faden!