Günter Krass - Ich und die Russen(1)

Mein erster Russe hieß Ilja Rogoff, mit vollständigem Namen Ilja Rogoff Knoblauchpillen 104 Jahre alt.  Einhundertvier Jahre, damals, als ich noch sehr jung war, ein unwahrscheinliches Alter, das man vielleicht durch den Biss eines Vampirs, der ja im Östlichen beheimatet ist, erlangen konnte. Heute ist das schon fast normal, die Medizin schreitet voran, alles ist möglich, die Leute werden steinalt, obwohl sie es gar nicht wollen.
Ilja Rogoff hing an einem Reck im Schaufenster der Löwenapotheke. Da es in einem Apothekenschaufenster eigentlich nichts zur Schau zu stellen gab, was nicht  zu Hause im Regal stand, hatte man ein kleines Reck aufgebaut, den Ilja Rogoff drangehängt und nun hieß es eine Art Umschwung vorzustellen, die wohl demonstrieren sollte, dass der Russe Rogoff zwar 104 Jahre alt war, aber er immer noch in der Lage war, einen Perma-Umschwung hinzulegen, bei dem wir mittelmäßigen, aber jungen Sportler uns die Schultern ausgekugelt hätten. Rogoff aber machte Umschwung um Umschwung, rücksichtslos gegen seine Schultergelenke, so als sei er ferngesteuert durch Knoblauchpillen. Ziemlich schnell erkannte ich aber, dass nicht der Mann sich um die Stange drehte, sondern die Stange mit dem Mann. Seine Hände waren fest mit der Reckstange verbunden, sodass er keine Chance hatte, den ewigen Kreislauf der Sportmaschine zu beenden.
Knoblauchpillen halfen also auch gegen Folter.
Trotz des Wissens, dass hier nicht durch Willenskraft geturnt wurde, war es immer wieder spannend, wenn der dünne Mann sich bis zu einem Art Wendepunkt emporgehievt hatte, und dann plötzlich sein ganzer Bewegungsapparat auf der anderen Seite der Stange runterrasselte. Mit ausgekugelten Schultergelenken natürlich, um dann wieder vor vorn zu beginnen.
Ich lernte damals: Der Russe ist alt, der Russe riecht nach Knoblauch, der Russe macht immer weiter, auch wenn er durchdreht.
Vielleicht war der Russe auch gar kein Russe, sondern ein Bulgare. Das war aber letztlich egal.