Günter Krass - Weihnachten bei Fred


*Du bissen Weihnachtsmann!, sagte der Onkel, wenn der Sohn oder Neffe Fred etwas falsch gemacht hatten, so richtig falsch. Du bissen Klon!, war die abgeschwächte Variante, und der Begriff bedeutet nicht das Duplikat eines Wesens, sondern eine grell geschminkte Witzfigur, die über die eigenen Schuhe stolperte. (Nicht Daniela Katzenberger, auch nicht die Geissens.) Du bist ein Weihnachtsmann!, diese zurechtstutzende Metapher säte den ersten Zweifel an Weihnachten. Ein Weihnachtsmann, nicht der Weihnachtsmann. Was konnte das bedeuten? Man sang nicht: Morgen kommen die Weihnachtsmänner, sondern der Weihnachtsmann. Und wenn ein Weihnachtsmann nicht Vorbild, nicht Autorität, nicht Lebensziel sein konnte, sondern ein Synonym für einen ungeschickten und zu Unfug neigenden Sohn und einen ebensolchen Neffen, dann geriet die ganze Weihnachtswelt mit Christkind, Engeln, Knecht Ruprecht, Zwergen, Nikolaus und eben dem Weihnachtsmann ins Wanken.
Die immerlautende Frage blieb:Wie konnte die logistische Meisterleistung, Millionen, nein Zigmillionen Kinder gleichzeitig an Heiligabend zu bescheren, bewältigt werden? Und dabei noch unsichtbar zu bleiben? Und das mit einem Weihnachtsmann, der scheinbar zu nichts zu gebrauchen war?
-->
Das wirklich Weihnachtliche war immer unsichtbar. Das Sichtbare, die Kugeln, die Kerzen, das kleingelockte Engelshaar, war käuflich, und lag Tage vorher im Regal beim Konsum. Manchmal tauchte der Weihnachtsmann am 6.Dezember auf und grummelte etwas von Immerartiggewesen und Gedicht aufsagen. Cousin und Cousin lachten unsichtbar in sich hinein und hatten längst an den Schuhen und der Manchesterhose Onkel Willi oder Freds Vater erkannt, und die waren weiß Gott keine Weihnachtsmänner. Die Jungen murmelten Lyrisches mit Endreim, dass irgendwie mit „mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!“ endete. „Aber noch nicht jetzt!“, ergänzten die Befragten im Gedanken und kassierten ihre Süßigkeiten, lächelten demütig und hielten es aus, wenn auch noch ein Weihnachtslied angestimmt wurde.

Der echte Weihnachtsmann stritt wahrscheinlich zur gleichen Zeit mit dem Christkind, dem Nikolaus, Knecht Ruprecht, den Zwergen, den Engeln und den Rentieren - oder waren es Elche?- über die Arbeitsverteilung bei der Bescherung. War Jesus eigentlich das Christkind? Oder war das Christkind ein ganz anderes Wesen, denn es so nicht aus wie ein kleiner Knirps, der in Bethlehem geboren wurde. Das Christkind war blondgelockt, hatte ein weißes Nachthemd an, ein zarten weißen Teint und blaue Augen.
Das Christkind war nordisch. Jesus stammte aus dem Nahen Osten. Fred kam vom Zweifeln und Verzweifeln. Weihnachten. Was für eine große Rätselkiste. 


Die Unsichtbarkeit der zentrale Weihnachtsfiguren stiftete Verwirrung; im Moment war Fred gläubig und sollte das die nächsten 6 Jahre bleiben. Mit der Konfirmation festigte der konfirmierende Pastor ihn in seiner Haltung, die er im Konfirmationsunterricht gewonnen hatte: Kirche ist nichts für mich.
Fred ging mit der Mutter in den Nachmittagsgottesdienst an Heiligabend, der trotz Überlänge und geänderten Anfangszeiten voll war, und Fred fragt sich: Warum ist die Kirche nur heute so voll? Es mussten Stühle bis in den Vorraum gestellt werden und niemand schnarchte leise. Die Luft war zum Schneiden. Wie ein Christstollen. Schwer lag die Heilegenachtstimmung über der Gemeinde. Der Vater weigerte sich  jedes Jahr, an etwas zu glauben. Er blieb zu Hause und glaubte, dass nach dem Tod nichts komme, und übernahm die Aufgabe für das Abendessen zu sorgen. In den ersten Jahren gab es aus diesem Grund Kartoffelsalat mit Würstchen. Da musste er nur das Wasser kochen und aufpassen, dass die Würstchen nicht platzten. Später wagte er sich an schwierigere Sache wie Schnitzel mit Pilzen aus dem Glas. Wenn der Gottesdienst mit Überlänge eine weiter Überlänge hatte, waren die Schnitzel trocken, die Pilze sehr klein und sehr trocken. Nur der Humor des Vaters war nicht mehr trocken. Die Laune übel, die Kirche war schuld. Der Begriff Kirche umfasste alles, die Männer im schwarzen Frauenkleidern, die Kirchensteuer kassierende Institution, das Glaubensbekenntnis und alles andere Bromborium, und den Gottesdienst speziell an Heiligabend. Jetzt war er konfirmiert. Er wusste, warum er den ganzen Kram nicht wollte. Gern hätte er jemanden für die dehydrierten Schnitzel und Pilze konfirmiert, aber es war ja Weihnachten.

Weihnachten. Fred fragte sich, ob er dieses Jahr wieder die obligatorische und bewährte Packung mit 4711-Seife und Zerstäuber schenken sollte, oder die Tosca-Variante? Ein Alpenveilchen wäre auch möglich, aber Fred hasste Alpenveilchen noch mehr als Usambara-Veilchen. Ein Pfund Bohnenkaffee kam nicht in Frage, das schnekte die Mutter schon der Schwiegermutter.
Man sollte nicht schenken, was man selbst nicht gern geschenkt bekäme. Aber der Mutter die neue Rolling-Stones-Single zu schenken, sah zu sehr nach Strategie aus. Wenn du sie nicht brauchen kannst, Mutter, könnte ich sie ja nehmen, übte Fred seinen Satz. Die 5 Mark wären gut investiert und die Mutter hatte sowieso keinen Plattenspieler, weshalb sie wohl die Scheibe zurückgeben würde.
Ein holländischer Junge quietschte sich durch Radio und Fernsehen mit dem Lied Mama, das jedes Mutterherz öffnete oder zum Schmelzen brachte. Heintje. Der Mutterglücklichmacher aus dem Nachbarland. Dafür würde er aber seinen Plattenspieler nicht hergeben. Selbst wenn die Mutter ihm die Heintjeplatte schenkte.
Fred entschied, dieses Jahr in Musik zu investieren. Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen. Hier formulierte der holländische Hochtöner, was Fred mittlerweile schwer fiel zu artikulieren. Die Mutter stufte ihren Fred mittlerweile als schwierig ein, weil er sein Zimmer nur noch sporadisch aufräumte, heimlich Pardon las und keinen Knick mehr ins Sofakissen machte, was wohl irgendwie gemütlicher und ordentlicher aussehen sollte.
Fred strebte an, die Haare -möglichst unentdeckt- länger werden zu lassen, weil es seinem eigenen Geschmack entsprach,  der zufällig auch mit dem britischer Beatgruppen übereinstimmte.
Was sollen die Leute denken, widersprach die Mutter, wenn Fred einen Selbstgestaltungsvorschlag unterbreitete, der ihr Missfallen fand.
Heintje - das war ein herzlicher Wunsch zu Weihnachten, und gleichzeitig auch eine Waffe. Die Mutter hatte keinen Plattenspieler und Heintje musste schweigen. In dieses Schweigen würde Fred seine erste Stones-Single Get off of my cloud auflegen, die schon einigermaßen abgenudelt war. Wat ess dat denn, hatte die Großmutter gefragt, als er Weihnachten 1965 die Platte nach dem Kufsteinlied auf seinem neuen tragbaren Monarch-Plattenspieler von Neckermann aufgelegt hatte.
Vielleicht war Heintje rausgeschmissenes Geld, aber es war ein letzter Versöhnungsversuch mit der Erziehungsberechtigten, um endlich das zu machen, was Fred immer drängender machen wollte.
Du musst doch nicht um deinen Jungen weinen, Mutter, summte Fred vor sich hin, und freute sich auf langes Haar und Sofakissen ohne Knick, auf ein unaufgeräumtes Zimmer und Renate, die bald Angela heißen würde, weil es mit Alma nur kurz geklappt haben würde.