Und dann zurückgepfiffen! Genauer lesen! Habe ich etwas nicht verstanden? Habe ich etwas übersehen?
Fatal ist nur, wenn ich wirklich nichts überlesen habe... Was dann?
Bodos Welt mischt sich ein. Für Minden und die ganze Welt. Bodos Welt bleibt stehen, wo andere weitergehen. Bodos Welt geht weiter, wo andere stehen bleiben. Parteiisch. Übernatürlich. Unablässig. Erscheint täglich. Unaufhörlich.Unhöflich.
Vor Jahren ist schon von Sportmedizinern festgestellt worden, dass immer weniger Kinder und Jugendliche rückwärts laufen können. Die Konsequenz, die daraus gezogen wurde, war der Verbot des wettbewerbsmäßigen Rückwärtslaufens, was einen ganzen Wirtschaftszweig in der Sportbekleidungsindustrie an den Rand des Abgrunds bracht. Zwar hatte man versucht, durch Kleidung für das Seitwärtslaufen zu kompensieren; aber niemand war wirklich an Seitwärtslaufen interessiert. Nun pellt sich nach langem Hin und Her eine neue Sportart aus dem Ei und will vielleicht auch bald im Licht des olympischen Feuers erstrahlen: Das Geradeauslaufen. Häufig kann man beobachten, dass es jungen Menschen schwer fällt, 50 oder 100 Meter ohne Schlangenlinie zu laufen und da anzukommen, wo der Zeitnehmer steht. Selbst Läufe ohne Zeitnehmer führten zu unhaltbaren Zuständen: Kinder verliefen sich, liefen zu weit oder kamen überhaupt nirgends an.
Halt lieber den Schnabel, sonst geht's auf den Hauklotz. Mit gekürzter Rübe lässt sich schlecht Kritik üben.
(Zum Verhalten der Menschen im 21.Jahrhundert: Ich möchte meine Ruhe haben. Demonstranten? Gab es die nicht im letzten Jahrhundert? Sind die nicht verfolgt und ausgerottet worden?)
Also erst mal: Jungen und Männer weinen nicht, weil sie gar keinen Grund haben zu weinen. So schlimm kann das doch alles gar nicht sein, egal was es ist. Nicht mal aus Schmerz wird geweint, denn Schmerzen sind, wie der Indianer schon festgestellt hat, eine Illusion. Einbildung. Da gibt es also auch nichts zu heulen. Heulen ist sowieso der richtige Begriff. Heulsuse nannten wir Rollo damals in der Volksschule, wenn er bei jedem Donnerschlag des gerade aufgezogenen Gewitters in der zweiten Stunde aufschluchzte und ein Beben und Zittern durch seinen mageren Körper ging. Heulsuse war fast wie Mädchen. Du Mädchen, du Angsthase, du Schissbüchse. Dabei weiß heutzutage jeder, dass auch Mädchen und Frauen nicht weinen, denn es gibt nichts zu weinen. Vielleicht haben die auch nichts zu lachen, das ist dann wieder traurig, und darüber könnte man weinen. Tut aber keiner. Oder vielleicht gibt es doch eine einzige Ausnahme, warum ein halbnackter Junge mit einem Blechhelm auf dem Kopf weinen könnte: Die Familie sitzt vor dem Fernseher, die Eltern haben sich schön einen gekippt und ratzen jetzt friedlich auf der Couch. Das Kind ist noch wach und will Richterin Barbara Salesch gucken oder einen anderen Dreck im Privatfernsehen. Dumm ist, dass Tommi, Bubis Vater auf der Fernbedienung liegt. Bubi weiß, dass es ein paar saftige Maulschellen setzt, wenn er den erschöpften Erziehungsberechtigten aus dem Koma holt. Das ist zum Heulen. Und dann soll das auch ein Junge tun.
Geht es dir nicht auch manchmal wie dem Gefangenen in der Untersuchungshaft, dem Freigänger oder dem Ausgenüchterten in der Verwahrungszelle? Du fühlst dich beengt, dein Leben ist unfrei, du bist Gefangener deiner eigenen Zwänge. Warum muss der Löffel in der Löffelablage liegen, das Kartoffelschälmesser im Messerblock stecken und warum darf der Fernseher nicht auf standby stehen? Fragen, die dir niemand beantwortet.
Da sitzt du erschöpft in der Regionalbahn, die Temperatur leicht erhöht, weil der Wagen überhitzt, schlecht belüftet und gefüllt ist, lässt deinen Blick umherschweifen, schaust durch lange nicht geputzte Fenster, die Landschaft rattert vorüber, denkst über den Nothammer an der Seitenverkleidung nach, nimmst den Mann mit dem Notebook in den Blick, und denkst, dass die Welt sich auflöst, aus den Fugen gerät, explodiert, schmilzt, wegfließt, sich nach außen krempelt, eckig wird, dreckig, morbide und nur Greenpeace die Rettung sein kann, Greenpeace und Sigmar Gabriel, der alte Doppelsitzpolitiker, dieser viel zu fette Mann, diese Kosmopolit-Kugel, verwirfst diesen Gedanken, stellst dir vor, wie der ein Bio-Schnitzel in den Mund schiebt, Fett glänzt in den Mundwinkeln, und verzweifelst an deiner Ohnmacht, an deiner Hilflosigkeit, Ratlosigkeit, Tatenlosigkeit, Gefangenheit in deinem langweiligen Alltag, der dieser Fahrt mit der Regionalbahn gleicht, in mittelmäßigem Tempo von Station zu Station zu rappeln, nichts passiert, Menschen steigen aus, Menschen steigen ein, niemanden lernst du kennen, niemanden verabschiedest du, nur der Zugbegleiter spricht mit dir: Die Fahrkarte, bitte! Iregndwann wirst du die Endstation erreicht haben. Dann wirst du gehen müssen. Plötztlich und endlich fällt dein Blick auf die Schuhe eines jungen Mädchens: Schwarze Turnschuhe mit Totenköpfen! Das soll dir Mahnung sein. Vergänglichkeit. Nutze den Tag, diese Fahrt, diese Station, die Möglichkeit, einen Blick auf deinen Nächsten zu werfen. Nutze das Leben. Ein Lächeln tastet sich vorsichtig auf deine Lippen. Der Mann mit dem Notebook lächelt zurück, das Mädchen mit den Totenkopfschuhen wippt fast übermütig mit dem Fuß. Der Nothammer hängt ruhig an der Seitenwand. Und du weißt: Es geht weiter. Trotz allem geht es weiter. Der Zugbegleiter fragt: Jemand zugestiegen? Du lächelst ihn an und fragst: Wo?