Rotraud!, schreist du durch die Wohnung, hast du meine Lesebrille gesehen?
Hast du eben Rotkraut zu mir gesagt?, schreit Rotraud zurück und kommt mit dem Tranchiermesser aus der Küche gestürmt, in der sie gerade das überfahrene Reh ausnimmt. Das hast du natürlich überfahren, weil du in Ermangelung der Lesebrille den Routenplaner nicht richtig lesen konntest. Vielleicht mag das übertrieben sein, aber es zeugt doch von der Wichtigkeit der Kleinigkeiten. Irgendwann findest du die Brillen und sie hocken mal wieder aufeinander. Du schwörst, sie demnächst nur noch an ganz genau festgelegten Orten abzulegen, die du dann der Reihe nach abgehen kannst und spätestens an Platz 10 auf die Lesehilfen triffst. Genau ab diesem Zeitpunkt liegen plötzlich Lesebrillen herum, obwohl du die gar nicht gesucht hast. Und es sind immer zwei, so als wollten sie dich verlachen: Haha! Die eine hast du gefunden, und die andere auch! Haha! Musst gar nicht suchen, das Leben könnte so einfach sein!
Was aber nützen zwei Lesebrillen auf einem Platz? Nichts! Immer musst du eine liegen lassen, was diesen natürlich krumm nimmt und beschlägt oder unscharf wird. Es ist zum Verzweifeln. Du beschließt, dir Kontaktlinsen anzuschaffen. Aber als Lesehilfe?
Just, als sie dies mitbekommen, beschließen die beiden Lesebrillen nicht nur eine lebenslange Freundschaft zu schließen, sondern versuchen durch Aufeinanderherumsteigen Kontaktlinsen zu zeugen. Ehrlich gesagt: Da kann der Brillenträger nicht mehr böse sein, auch wenn er kurz vorher stundenlang gesucht hat. Wenn du denkst, das Leben sei langweilig, dann hat es immer noch ein Wunder auf Lager.